„Dann gäbe es halt Europa nicht mehr“

■ „Tschernobyl - Die Schwelle“ - ein sowjetischer Dokumentarfilm

Sie führten einen Befehl aus, ohne das Ausmaß der Gefahr auch nur zu ahnen. Sie haben den weichen Brennstoff mit den Füßen festgetreten. Er hat gleuchtet, aber sie haben nicht gewußt, was das ist“, sagt Elfrida Sitnikowa, Witwe des Ingenieurs Sitnikow.

„Es mußte sein! Wenn wir das, was wir getan haben, nicht getan hätten, dann gäbe es die Ukraine nicht mehr, und vielleicht sogar halb Europa“, antwortet Wiktor Schowkoschitnyi, Strahlenmeßexperte und Mitglied der Aufräumkommandos. Zwei Stimmen aus dem sowjetischen Dokumentarfilm Die Schwelle über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Ein Film, der - mit Ausnahme weniger Sekunden - gerade nicht die vom Verleih ankgekündigten „sensationellen Originalaufnahmen vom April 1986“ zeigt, als das Atomkraftwerk durchbrannte. Er zeigt die Folgen. Die aber werden mit jedem Tag, der „Tschernobyl“ im Bewußtsein Europas und der Welt ein Stückchen mehr verblassen läßt, sichtbarer und erschreckender.

Die Unsichtbarkeit der tödlichen radioaktiven Strahlen steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Wirkung. So überholt die verdrängte Geschichte die Gegenwart und verfinstert die Zukunft.

Am zweiten Jahrestag der Katastrophe versammelt sich ein kleiner Kreis von Menschen in einer Privatwohnung. Alle lebten im Pripjat, in der unmittelbaren Nähe des Atomkraftwerks, alle waren Betroffene und Akteure des Unglücks. Sie reden über das, was passiert ist, was sie erlebt haben und heute darüber denken. Dazwischen Dokumentaraufnahmen einer Gedenkveranstaltung in einem öffentlichen Saal: Reden, sich erinnern, Fragen - dazu Lieder und Gedichte der Künstlervereinigung „Prometheus“.

„Wir werden nicht aus dem Gefängnis unserer Gedanken befreit“, sagt einer von ihnen. „Ich stand am Schlafzimmerfenster und sah den brennenden Block“, erzählt eine Frau. „Ich fragte mich: Was soll ich mit den Kindern machen, damit sie bei einer Explosion nicht leiden müssen?“

Die haben jene 50.000 Arbeiter, Ingenieure, Feuerwehrleute und Soldaten verhindert, die binnen weniger Stunden das Hundertfache der Strahlendosis erhielten, die an „der Schwelle“ zur Gefährlichkeit liegt. Bilder von grauenhaft strahlenverbrannten Leibern werden mehrmals gezeigt; doch das Schlimmste ist die Gewißheit, daß Millionen von Menschen in der Ukraine strahlenverseucht sind, das Hunderttausende erkranken und an den verschiedensten Symptomen sterben werden. Die Evakuierung der umliegenden Dörfer erfolgte zu spät, unzureichend und chaotisch. Lebenswichtige Informationen und Warnungen wurden zurückgehalten. Noch heute verweigern die Gesundheitsbehörden schwerkranken Patienten die Auskunft über den Grad ihrer Verstrahlung. Häufig wird ihnen „Radiophobie“ attestiert. Ein Moskauer Psychologieprofessor diagnostiziert eine „allmähliche Camouflage des Staatsapparates“. Gerade dieser Tage werden Hungerstreiks von Patienten gemeldet, die die Wahrheit wissen wollen. Während sowjetische Wissenschaftler die Abschaltung der anderen Blöcke des Atomenergiekomplexes Tschernobyl fordern, kündigen die Behörden - fast vier Jahre nach dem GAU - neue Umsiedlungen an. Das Desaster frißt sich weiter in Natur und Gesellschaft, unaufhaltsam.

Der von Herbstmilch-Regisseur Vilsmaier bearbeitete, im russischen Original (mit deutschen Untertiteln) gezeigte Film dokumentiert die Monströsität eines einzigen „technischen“ Unfalls und die hoffnungslose Überforderung bisheriger sozialer Systeme nicht als laute, reißerische Anklage, sondern als eindrucksvollen, authentischen und unwiderleglichen Abgesang auf den prometheischen Größenwahn, dessen Dummheit in der gewalttätigen Hilflosigkeit des bürokratischen Zynismus endet. Zwischen den gespenstischen Bildern eines Brautpaares, das in Pripjat den Hochzeitswagen besteigt, während die Gamma-Strahlung aus Tschernobyl schon Lichtblitze ins Filmmaterial brennt, und den Aufnahmen von den menschen- und gottverlassenen Dörfern und Siedlungen, den Friedhöfen für verseuchte LKW und Busse, den toten strahlenden Bäumen, Äckern und Wiesen, zwischen der Sehnsucht nach Leben und der Realität unabsehbarer Zerstörung artikuliert dieser schwer zu ertragende Film die Stimmen der Individuen, die nicht aufhören, ja, erst richtig anfangen, einen neuen Begriff von Vernunft und Verantwortung zu entwickeln, weil sie anders nicht überleben können.

Nach den jüngsten Meldungen aus Frankreich über eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit eines „nicht beherrschbaren“ Atomunfalls innerhalb dieses Jahrzehnts und den Hiobsbotschaften aus Greifswald in der DDR ist Tschernobyl - Die Schwelle ein gesamteuropäisches memento mori, die Erinnerung an die Vergangenheit der Zukunft.

Reinhard Mohr

Rollan Sergijenko: „Tschernobyl - Die Schwelle“, Deutsche Bearbeitung: Joseph Vilsmaier, UdSSR 1988, ca. 100 Minuten.