„Ich halte den Sofortausstieg für unverantwortlich“

Prof. Klaus Michael Meyer-Abich gibt vor dem Hintergrund der drohenden Klimakatastrophe Auskunft über seine neuen energiepolitischen Überlegungen  ■ I N T E R V I E W

Auf einem Energiekongreß in Kiel am letzten Wochenende hat der Essener Energieexperte Prof.Meyer-Abich etliche Zuhörer geschockt. Sein Bekenntnis: Ein Sofortausstieg aus der Atomenergie komme angesichts der Klimagefahren und der Treibgase aus den Kohlekraftwerken nicht mehr in Frage. Meyer-Abich galt bis dato als entschiedener Atomgegner. Die taz fragte ihn nach den Gründen für seine „neuen Überlegungen“.

taz: Sie haben vor dem Hintergrund der Klima-Diskussion eine Neubewertung der Atomenergie verlangt. Warum sind Sie umgefallen?

Meyer-Abich: Ich bin weder umgefallen noch habe ich einer wirklichen Neubewertung der Atomenergie das Wort geredet. Was ich will, ist eine Neubewertung der fossilen Energieträger.

Und in diesem Zusammenhang wollen Sie aus dem Sofortausstieg der Atomenergie aussteigen.

Ich habe den Sofortausstieg schon immer kritisch gesehen, jetzt halte ich ihn sogar für unverantwortlich. Wir stehen vor einer erschwerten Situation, in der wir nicht nur aus der Atomenergie aussteigen müssen, was ich mittelfristig unverändert für geboten halte, sondern auch aus den fossilen Energieträgern. Wir müssen aus beidem raus, und das erfordert neue Überlegungen.

Und dazu gehört ein Bestandsschutz für die Atomenergie im jetzigen Ausbauzustand?

Bestandsschutz würde ich nicht geben. Aber wir dürfen nicht immer nur auf das eine Problem der Atomenergie fixiert sein. Wir müssen angesichts der Klimaentwicklung auch ein anderes großes, globales Problem sehen, nämlich daß die Industrieländer mit ihrer Belastung für die Atmosphäre zu drei Vierteln für eine Klimaveränderung verantwortlich sind, die vor allem die armen Länder ausbaden müssen. Das ist die dritte Welle der Kolonialisierung. Erst kamen die Soldaten, dann kam die internationale Wirtschaft, und jetzt kommt die Öko-Kolonialisierung, indem wir diesen Ländern die Lebensbedingungen zerstören.

Jetzt tun Sie so, als würden alle Atomgegner vor der Klimakrise rücksichtslos die Augen schließen.

Ich bin ein Atomkraftgegner, der genau dies nicht tut.

Es gibt, was man Ihnen nicht zu sagen braucht, sehr gute Alternativen zum Atomstrom. Die Bundesrepublik ist ein gigantischer Energieverschwender, die Kraftwerke besitzen einen durchschnittlichen Wirkungsgrad von 35 Prozent. Die Energiepotentiale, die eingespart werden können, beziffert das Umweltbundesamt auf insgesamt 70 Prozent des heutigen Verbrauchs.

Längerfristig sind sie sogar noch größer. Und wegen der Klimakrise brauchen wir heute eine noch radikalere Priorität für die Energieeinsparung als ich dies schon seit 15 Jahren sage.

Und trotzdem wollen Sie die AKWs am Netz halten?

Ich will sie nur langsamer abschaffen. Wir haben in der Klima-Enquete-Kommission über den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern beraten. Dort zeichnet sich folgendes Ergebnis ab: 13 Einheiten Kohle sollen ersetzt werden durch 10 Einheiten Einsparung, durch 2 Einheiten Sonnenenergie und 1 Einheit Atomenergie. Das ist ein Vorschlag, den ich in diesem Verhältnis bemerkenswert finde.

Aber aus diesem Vorschlag folgt, daß die bestehenden Atomkraftwerke allesamt am Netz bleiben sollen.

Daraus folgt, daß ein Sofortausstieg nicht befürwortet wird. Sofortausstieg hieße, daß die Kohlendioxid-Emissionen nach oben gingen. Damit würden wir uns der selbst eingegangen Gefahr der Atomenergie dadurch entziehen, daß wir andere Länder einer anderen Gefahr, nämlich der Klimagefahr, aussetzen.

Ihren Schluß, daß bei einem Sofortausstieg der CO2-Ausstoß steigt, halte ich nicht für zwingend.

Unter Sofortausstieg verstehe ich einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren. So schnell kann man die Energiesparpotentiale nicht umsetzen. Man kann die Atomenergie allenfalls in einem Zeitraum von zehn Jahren durch die Einsparpotentiale ersetzen. Das braucht einfach seine Zeit, und deshalb finde ich diesen Ausstiegshorizont auch nach wie vor richtig.

Sie stehen also noch zum Ausstiegsbeschluß des Nürnberger SPD-Parteitages: Ausstieg innerhalb von zehn Jahren?

Ich spreche nicht für die SPD.

Sie waren der Energieberater dieser Partei.

Und auch da habe ich meine eigene Meinung vertreten. Wenn Sie mich nach dem Zeithorizont für den Ausstieg fragen, dann denke ich an 10 bis 15 Jahre. Das sage ich aber eher intuitiv. Viel wichtiger als solche Abschätzungen ist die konkrete Energiepolitik und eine wirkliche Weichenstellung für die Energieeinsparung. Und das heißt für mich die sofortige Verdopplung der Energiepreise. Eine solche Erhöhung würde den notwendigen Druck für Energieeinsparungen schaffen und den Innovationsstau durch die Atomkraftwerke lockern. Die Zeit des Ausstiegs aus den fossilen Energieträgern und aus der Atomenergie hängt davon ab, wie schnell man diese Einsparungen realisiert.

Sie haben immer den energiepolitischen Bewußtseinswandel verlangt. Wenn man jetzt das Wort vom Verzicht auf den Sofortausstieg in die Debatte wirft, führt das nicht dazu, daß man die alten Verhältnisse stabilisiert?

Wir haben eine zusätzliche Verantwortung durch die drohende Klimaänderung. Dadurch entsteht ein zusätzlicher Druck auf die Energiepolitik. Und meine Konsequenz habe ich Ihnen gesagt. Ob diese Regierung tatsächlich den Energiepreis verdoppeln wird, da habe ich meine Zweifel. Und ich habe auch meine Zweifel, ob es die nächste Regierung tun wird. Aber es wäre notwendig.

Auch wenn Sie jetzt ihre Position etwas relativiert haben, bin ich sicher, daß Ihnen die Atomgemeinde kräftig Beifall klatschen und Sie in ihr Herz einschließen wird.

Man ist niemals sicher vor den falschen Freunden, aber ich hoffe, daß mir auch die richtigen Freunde erhalten bleiben.

Interview: Manfred Kriener