Die Zeichen im ANC stehen auf Kompromiß

Zehntausende sitzen teilweise seit Jahrzehnten im sambischen Exil und jetzt auf ihren Koffern / Doch vor ihrer Rückkehr muß nicht nur ihre Straffreiheit gesichert sein / Der ANC-Aufbau im Land bringt große organisatorische und ökonomische Probleme mit sich  ■  Von Hans Brandt

„An zu Hause denke ich gar nicht. Jetzt ist der ANC mein Vater und meine Mutter.“ Das sagte im November 1988 ein junger Kämpfer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in seiner Exilheimat Lusaka stolz. Jetzt, nur 15 Monate später, träumen sie alle wieder von zu Hause, seien sie Kämpfer und Sozialarbeiter, Diplomaten, Künstler oder Bürokraten. Vor Weihnachten werden sie nach Südafrika zurückgekehrt sein, da sind sich alle sicher. Diskussionen in abendlichen Bierrunden nehmen die Übernahme der Macht in Südafrika schon voraus. Da wird ernsthaft gefragt, ob die „heiligen“ Monumente des Burentums, allen voran das „Voortrekker Monument“ in Pretoria, abgerissen werden sollen (nein) oder ob Ortsnamen aus der Zeit der weißen Vorherrschaft zu afrikanisieren sind (ja).

Aber so leicht ist das alles nicht. Diejenigen, die nach der Legalisierung des ANC durch Präsident Frederik de Klerk am 2.Februar voller Aufregung ihre Sachen gepackt hatten, besannen sich schnell eines Besseren. Es gibt noch keine formelle Amnestie für ANC-Mitglieder - viele müßten bei der Rückkehr mit der Verhaftung rechnen. Eine Amnestie hängt von ersten direkten Gesprächen zwischen ANC und de Klerk ab, die „in Kürze“ stattfinden sollen. Diese Gespräche sind der nächste Schritt hin zu substantiellen Verhandlungen über die Zukunft Südafrikas. Vorerst geht es noch um die Voraussetzungen für Verhandlungen: Amnestie, die Freilassung politischer Gefangener und die Aufhebung des Ausnahmezustandes.

Schutz vor einer Verfolgung durch das südafrikanische Gesetz ist jedoch Voraussetzung für den wichtigsten, vom ANC in den nächsten Monaten geplanten Schritt - den Aufbau legaler ANC-Strukturen in Südafrika. Dabei gibt man sich selbst nur wenige Monate Zeit: Schon am 16. Dezember soll die nur alle fünf Jahre stattfindende Nationalkonferenz tagen. Einem Treffen der ANC-Exekutive letzte Woche in Lusaka lag ein detaillierter Plan vor. „Wir werden sobald wie möglich ein ANC-Hauptquartier in Johannesburg eröffnen“, kündigte ANC-Generalsekretär Alfred Nzo nach dem Treffen an. Doch Einzelheiten wollten weder Nzo noch der neugewählte Vizepräsident Nelson Mandela bekanntgeben. Stattdessen kündigte ersterer an, daß Exekutivmitglieder „sobald als möglich“ zu Konsultationen mit internen Anti -Apartheidorganisationen nach Südafrika fahren würden.

Das deutet auf Differenzen über Organisationsformen und die Rolle von Gruppen wie der Vereinigten Demokratischen Front (UDF) und der Gewerkschaftsföderation COSATU im neu legalisierten ANC hin. „Wenn wir es ernst meinen mit dem Gedanken der Volksmacht, dann können wir das nicht in eine einzige Organisation zwängen“, so Sydney Mafumadi, stellvertretender COSATU-Generalsekretär. Der ANC solle zwar eine Führungsrolle übernehmen, die schon bestehenden Organisationen aber nicht aufgelöst werden.

Der Aufbau des ANC als politische Partei stellt die Organisation auch vor erhebliche praktische und finanzielle Probleme. Immerhin soll im ganzen Land, bis hin in die entlegensten ländlichen Gebiete, ein Netz von ANC-Verbänden entstehen. „Wir werden Leute aus den internen Organisationen einstellen müssen.“ ANC-Schatzmeister Thomas Nkobi schätzt indessen, daß der Aufbau der Organisation und die Repatriierung von mehreren zehntausend ANC-Mitgliedern etwa 80 Millionen Dollar kosten wird. Deshalb hat auch Nelson Mandela wiederholt die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten, wohl mit Erfolg - der Westen ist daran interessiert, den Annäherungsprozeß in Südafrika voranzutreiben.

Auch die Sowjetunion, lange Zeit bei Waffenlieferungen engster Verbündeter des ANC, ist bemüht, der Organisation zu Verhandlungen auf die Sprünge zu helfen. Verhandlungen sollten so schnell wie möglich zustande kommen, meinte Vassili Soledownikow, sowjetischer Südafrikaexperte und ehemaliger Botschafter der UdSSR, letzte Woche in Lusaka. Sowohl de Klerk, der dem Druck ultrarechter Weißer zu widerstehen habe, als auch der ANC, der von radikaleren Gruppen wie dem Panafrikanistischen Kongreß (PAC) unter Druck gesetzt würde, sollten keine Zeit verlieren.

Soledownikow, Vizepräsident des sowjetischen Afroasiatischen Solidaritätskomitees, drängte den ANC dazu, weitreichende Kompromisse mit den Weißen einzugehen. Er hinterließ den Eindruck, als wolle die UdSSR das Südafrikaproblem so schnell wie möglich loswerden. Er betonte, daß der in Südafrika begonnene Prozeß nicht mehr umkehrbar sei. Eine Rückkehr des ANC zum bewaffneten Kampf und damit vermutlich eine Wiederaufnahme von umfangreichen Waffenlieferungen an die Organisation - sei nicht mehr möglich.

Was den bewaffneten Kampf betrifft, hat der ANC sich jedoch bisher jedem Druck widersetzt. „Alle versuchen uns in eine Situation zu drängen, die Kapitulation bedeuten würde“, meint Steve Tshwete, eines der jüngeren, militanteren Mitglieder der ANC-Exekutive. „Verhandlungen sind kein Ersatz für bewaffneten Kampf“. Der werde nur mit einem bilateralen Friedensvertrag zwischen ANC und Regierung beendet werden.

Doch momentan herrscht eher verbale Militanz vor. Die Zahl der Angriffe in Südafrika ist letztes Jahr drastisch zurückgegangen. Tshwete nennt das einen „normalen Vorgang der Ebbe und Flut wie in jedem Krieg“ - konkret hat es wohl mit der Schließung von ANC-Militärlagern in Angola im Zuge des Unabhängigkeitsprozesses in Namibia zu tun. Trotz des formell andauernden bewaffneten Kampfes zeichnet sich im ANC eine allgemeine Konzessionsbereitschaft ab. Da ist die Rede von Garantien für die Weißen, von der Möglichkeit einer Übergangsregierung, in der sich ANC und Regierung die Macht teilen. Mandela bemüht sich, in jeder öffentlichen Aussage, die Weißen zu beruhigen.

Das bedeutet allerdings nicht die sofortige Auflösung von ANC-Untergrundstrukturen. „Verhandlungen stehen heute im Vordergrund, aber morgen kann die Situation sich verändert haben“, warnt die ANC-Zeitung 'Mayibuye‘ in ihrer jüngsten Ausgabe. Dennoch - selbst die Vorsicht der militantesten ANC -Mitglieder wird zur Zeit noch überschattet von der Möglichkeit, endlich nach Hause zurückkehren zu können. „Wo wohnst du?“ fragte ich letzte Woche in Sambia ein ANC -Mitglied. „In Lusaka, vorübergehend“, antwortete er lachend.