Letzte Tagung der alten Volkskammer

Am Dienstag und Mittwoch trat das Parlament der DDR zum letzten Mal vor den Wahlen zusammen / Sozialcharta und ein Bündel von Gesetzen zur Wirtschaftsreform verabschiedet / Wandlung vom Abstimmungsgremium zur arbeitenden Körperschaft  ■  Aus Ost-Berlin Walter Süß

„Nicht ohne innere Bewegung“, erklärte Volkskammerpräsident Maleuda (DBD) am Ende der zweitägigen Sitzung, könne er die achtzehnte und letzte Tagung des DDR-Parlaments beschließen. Er erinnerte daran, daß dieses vor vier Jahren vom SED -Apparat zusammengestellte Gremium sich in den letzten vier Monaten unter dem Druck der Straße „mit beeindruckender Schnelligkeit“ gewandelt hat: „Innerhalb von Tagen wurde es von einem Abstimmungsparlament zur arbeitenden Körperschaft.“ In diesen Monaten hat die Volkskammer in 22 neuen Gesetzen und 5 Verfassungsänderungen versucht, das politische System der DDR zu demokratisieren, größeren Spielraum für gesellschaftliche Eigeninitiative zu schaffen und die bürokratisch-zentralistische Kommandowirtschaft abzubauen. Maleuda dankte Ministerpräsident Modrow „als Politiker und als Mensch“ - eine Geste, die von den Abgeordneten mit stehendem Applaus unterstrichen wurde (Modrows Ansprache s. S.1). Die 18.Volkskammertagung hat ein ganzes Bündel von Gesetzen verabschiedet, die Wirtschaftsreform voranzutreiben und zugleich bestimmte soziale und ökonomische Errungenschaften der DDR für den Fall einer Vereinigung zu sichern. Bereits am ersten Sitzungstag war ein Gewerkschaftsgesetz verabschiedet und in die DDR-Verfassung Streikrecht und Aussperrungsverbot aufgenommen worden. In dem Gewerkschaftsgesetz werden den Gewerkschaften umfassende Mitspracherechte eingeräumt, wobei allerdings das vom FDGB ursprünglich angestrebte Vetorecht gegenüber dem Parlament wie gegenüber den Unternehmensleitungen in allen die Werktätigen betreffenden Fragen (also in allen) fallengelassen wurde. Außerdem war auch das Gesetz über die Kommunalwahlen, die am 6.Mai stattfinden sollen, verabschiedet worden.

Gestern wurde durch die Volkskammer die vom Runden Tisch am Montag verabschiedete „Sozialcharta“ (s. taz vom 6.3.) gebilligt. Sie soll jetzt dem Bundestag in Bonn mit der Bitte um Übernahme zugeleitet werden und zugleich die Grundlage für die Verhandlungsposition der DDR-Delegation bei den Vereinigungsgesprächen bilden. Im Kern geht es in dieser Charta darum, den „sozialen Besitzstand der Bürgerinnen und Bürger“ der DDR bei der Vereinigung zu sichern und zugleich die weltweit fortschrittlichsten sozialpolitischen Maßnahmen aufzunehmen. Dadurch soll „die Herstellung der Einheit Deutschlands (...) als Modell einen Beitrag für die wirtschaftliche, soziale und politische Integration eines gemeinsamen Europas leisten“. Minister Gerd Poppe erklärte vor der Abstimmung: „Wer den Anschluß der DDR an die Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes befürwortet, sollte wenigstens so ehrlich und konsequent sein, auch einer Sozialcharta seine Zustimmung zu verweigern.“ Dieser Hinweis löste zwar Unruhe im Saal aus, wurde aber nicht beachtet: Bei 3 Gegenstimmen wurde die Sozialcharta angenommen. Verabschiedet wurde weiterhin ein Versammlungsgesetz, das Demonstrationen künftig nur noch anmelde-, nicht mehr genehmigungspflichtig macht.

Einen Schwerpunkt der Tagung bildeten mehrere Gesetze zum Eigentumsrecht, die einerseits private Initiative ermöglichen, andererseits aber einen Ausverkauf von Grund und Boden an kapitalkräftige Westler verhindern sollen. Ein „Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform“ stellt Bodenreformeigentum mit anderen Formen des bäuerlichen Eigentums, also dem Boden, den die Bauern in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) eingebracht haben, rechtlich gleich. Weiterhin können die LPGs von ihnen genutzen „volkseigenen Boden“ - etwa 30 % bzw. 1,4 Mio. Hektar ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche gegen Entgeld vom Staat erwerben. Wenn Bauern aus der LPG austreten und ihren Boden verkaufen wollen, hat die Produktionsgenossenschaft ein Vorkaufsrecht. Nutzungsveränderungen und Grundstücksverkauf bleiben genehmigungspflichtig.

In einem „Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude“ wird festgelegt, daß zwar Gebäude, nicht aber der Boden, auf dem sie stehen, auch an Ausländer mit ständigem Wohnsitz in der DDR veräußert werden können. Eine Ausnahme bilden Grundstücke mit Ein- und Zweifamilienhäusern, wobei eine Sperrfrist von drei Jahren zwischen Kauf und neuerlichem Verkauf Spekulanten abschrecken soll.

In zwei weiteren Gesetzen wird die Gewerbefreiheit und die Gründung privater Unternehmen geregelt. Alle früher existierenden Beschränkungen hinsichtlich Beschäftigtenzahl sind damit aufgehoben. Auch staatliche Unternehmen können mit Genehmigung des zuständigen Wirtschaftskomitees und nachdem eine „Stellungnahme“ der Belegschaft eingeholt worden ist - privatisiert werden. Der dazugehörige Boden allerdings wird nur zur Nutzung überlassen und kann nicht veräußert werden.