Auch in Feierabendheimen fehlen die „Minütchen“

■ Ein Rundgang durch Ostberliner Altenheime: Viele MitarbeiterInnen sind mit dem DDR-System zwar generall zufrieden - wünschen sich aber mehr Zeit für individuelle Betreuung / Was wird, wenn die West-Wohlfahrtskonzerne zuschlagen?

Das im DDR-typischen, verblichenen Putz dämmernde „Feierabend- und Pflegeheim Martha Ahrendsee“ im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg wirkt von außen sehr ruhig, fast leblos. Daß es hinter den Mauern jedoch einiges an Bewegung gibt, konstatiert der stellvertretende Leiter Peter Henze: „Wir haben unter den Mitarbeitern eine gewisse Fluktuation zu anderen Arbeitsstellen, zum Beispiel Kinderkrippen. Abgehauen sind seit der Grenzöffnung jedoch nur der leitende Pfleger und ein Pförtner“, berichtet der 46jährige, der das Heim demnächst übernehmen wird.

Henze selbst („das Leben ist bunt“) repräsentiert ein Stück junger DDR-Geschichte: Gelernter Lokführer, Bergbauingenieur und Diplomingenieurökonom, ist nach der Wegrationalisierung seiner Stelle in einem Außenhandelsbetrieb erst seit zwei Wochen im Haus Erich-Weinert-Straße 93. Er arbeitet sich gerade ein, unterstützt von der leitenden Schwester Ruth Richardt, die immerhin schon seit Januar dieses Jahres hier ist, und weiteren 60 Mitarbeitern, die für 140 BewohnerInnen sorgen, darunter über 100 bettlägrige Pflegefälle. Daß seit der Grenzöffnung nur zwei Mitarbeiter in den Westen gegangen sind, führt Fürsorgerin Ingrid Ebeling darauf zurück, daß die „meisten Mitarbeiterinnen Familie haben. Und eigentlich sind wir ein gutes Kollektiv. Es fühlt sich niemand so, daß er unbedingt gehen müßte“.

In der vergleichsweise guten Bezahlung von 1.200 Mark inklusive zahlreicher Zuschläge (DDR-Durchschnitt: 850 Mark) sieht Henze einen weiteren Grund, der für die Arbeit im Altenheim spricht. Die Mitarbeiterinnen vermissen aber nicht nur Wegwerfspritzen für Insulin, sondern auch die Möglichkeit, sich mehr mit den BewohnerInnen zu beschäftigen. Fürsorgerin Ingrid Ebeling: „Es müßten mehr Planstellen geschaffen werden, damit wir zum Beispiel Zeit haben, mit den Bewohnern spazieren zu gehen.“

Weil eine umfassende Rekonstruktion des Hauses bevorsteht, wird sich vielleicht auch Margarethe Müller bald wieder wohler fühlen, die seit 16 Jahren im Haus wohnt. Die 96jährige: „Früher war es hier wie im Sanatorium, wir haben auch viel mehr Schwestern gehabt.“ Im St. Josefs-Heim des Carmeliterinnen-Ordens in der Pappelallee betreuen acht Mitarbeiterinnen 36 Frauen, die zumeist in Einzelzimmern wohnen. Oberin ist Schwester Gabriela.

Sie mußte nach der Grenzöffnung zwei Mitarbeiterinnen und eine kurz zuvor Ausgewanderte durch Studentinnen ersetzen mit deren Arbeit sie allerdings sehr zufrieden ist. Die Wartezeit für einen Heimplatz beträgt derzeit etwa zwei Jahre. Wie bei den staatlichen Heimen kostet ein Wohnplatz 105 Mark im Monat, ein Pflegeplatz 120 Mark. Den Rest zu den gut 500 Mark tatsächlicher Kosten schießt der Staat zu. Von ihrer Rente bleibt den BewohnerInnen also ein wesentlich größerer Teil als den Leidgenossen in westlichen SeniorInnenheimen. Materielle Hilfe habe das Haus über die Caritas zum Beispiel durch eine jährliche Spender in Form von Geschirr, Rollstühlen, Windelhosen oder auch Bettwäsche und einer Kücheneinrichtung bekommen.

Im Blick zurück auf politisch schwerere Zeiten meint die Oberin, die „Altenarbeit ist immer sehr geschätzt worden. Es hat sich ja auch gezeigt, daß gerade die Genossen gern in kirchliche Krankenhäuser und Heime gingen.“

Im Bezirk Berlin-Mitte ist Hannelore Frenzel Direktorin von vier sogenannten Feierabendheimen und zwei sozialen Dienststellen. Ihre 105 MitarbeiterInnen betreuen dort 470 SeniorInnen. In ihrem Büro im „Sala- und Martin-Kochmann -Heim“, benannt nach zwei jüdischen Widerstandskämpfern, sagt sie zum Thema Abwanderung: „Vorher hatten wir einzelne Aussiedler. Aber seit Öffnung der Mauer haben wir nicht einen Mitarbeiter verloren.“

Seit 1978 sind unter den 250 BewohnerInnen des „Sala- und Martin-Kochmann-Heimes“ auch körperlich und geistig Behinderte, die inzwischen von den SeniorInnen akzeptiert werden. Einen „Feierabendplatz“ zu bekommen, dauere „nur Wochen“, so Hannelore Frenzel, das Warten auf einen Pflegeplatz könne bis zu einem Jahr dauern. Schwere Fälle bekämen einen Platz, „sobald einer frei wird“. Ein ärztliches Attest gehört generell zu den Formalitäten.

Wichtig in der SeniorInnenarbeit sei die ambulante Betreuung. So würden von den 10.000 RentnerInnen im Bezirk Mitte zwischen 1.000 und 1.500 ambulant von Bezirksschwestern oder MitarbeiterInnen der Volkssolidarität zu Hause betreut.

Im „Heim am Weinbergweg“ ist das Angebot an die BewohnerInnen sehr umfangreich. Frau Frenzel: „Bei der Arbeitstherapie gibt es Wollarbeiten, Nähen und anderes. Im Kulturbereich bieten wir Kaffeenachmittage mit Künstlern, für die Pflegefälle auch auf den Stationen.“ Dennoch wünschten sich die MitarbeiterInnen manchmal mehr. Krankenschwester Gabriele Leistner: „Wir müßten uns ein Minütchen mehr den Leuten widmen können.“ Gisela Jamrath, Stationsschwester einer Pflegestation meint aber: „Was wir machen, ist aber schon betreuen, denn wir kümmern uns nicht nur um Sauberkeit und Verpflegung.“ Die eigene Belastung bewertet sie als groß, gerade die psychische: „Manchmal möchte man nicht mehr weitermachen, doch wir sind ziemlich optimistisch und eine dufte Truppe hier.“

Das scheint sich auch auf das Wohlbefinden mancher Bewohnerinnen auszuwirken. So skizziert Seniorin Helene Kuhn (87) munter ihre tägliche Beschäftigung - Liebesromane lesen, Karten spielen, „quatschen und viel fernsehen. Ost und West-Programme, denn wir müssen mit der Zeit mitgehen.“ Angst vor einem Zusammenrücken von Ost und West haben die MitarbeiterInnen der Altenbetreuung nicht. Gisela Jamrath: „Vorige Woche habe ich in ein Neuköllner Altenheim geschaut und hätte dort gleich anfangen können, so vieles ist ähnlich.“ Die leitende Schwester Ruth Richardt meint, „der Druck war früher stärker, wir können uns jetzt beruflich mehr entfalten“. Und Oberin Schwester Gabriela sagt: „In die kommenden Jahre der Übergangszeit gehen wir wegen unserer zeitgemäßen Ausstattung beruhigt. Ich hoffe auf neue Bewerbungen für feste Mitarbeit und darauf, daß wir unseren Bewohnern durch spontanere Handlungen mehr Lebensqualität bieten können, zum Beispiel den Bus für einen Ausflug nicht drei bis sechs Monate vorher bestellen müssen.“

Karsten Peters