Hermeneutik der SA-Aufmärsche

■ Thomas Balistiers „Gewalt und Ordnung . Kalkül und Faszination der SA“

Prognosen, die politische Kultur der Weimarer Republik sei in Zeiten des Fernsehens und zubetonierter Innenstädte passe, haben sich nicht bewahrheitet. Die neue Linke hatte ihre roten Fahnen, Neonazis tragen Uniformen, und die oppositionellen Bewegungen in der DDR sind ohne Straßendemonstrationen nicht denkbar. Wie sind die emotionale Wucht und die politische Schlagkraft solcher „Kulturmuster“ zu erklären? Und wie die plötzliche Aktualität von politischen Symbolen, die man längst im Museum wähnte?

Der Volkskundler und Soziologe Thomas Balistier (Tübinger Institut für empirische Kulturwissenschaft) arbeitet an einer Geschichte der Straßendemonstration im Nachkriegsdeutschland. Der Grundriß des wirkungsgeschichtlichen Ansatzes ist in seinem Buch über die „Kampfdemonstrationen“ der SA von 1933 zu besichtigen. Balistier fragt nach der Faszination der SA-Kolonnen und -Aufmärsche für die Beteiligten. Sein Untersuchungsgegenstand sind vornehmlich Zeitungsberichte über SA-Demonstrationen ('Völkischer Beobachter‘) sowie NS -Propagandaliteratur. Balistier sucht nachzuweisen, daß sich aus dem allgemeinen Muster „Straßendemonstration“ eine spezifische Form des deutschen Faschismus herausgebildet habe, die etwa mit den Demonstrationsformen der Arbeiterbewegung nicht verwechselt werden dürfe.

Was bekannt ist: die Militarisierung der Bewegungen gegen Ende der Weimarer Republik; der Bürgerkrieg als Rekonstruktion der traumatisch zusammengebrochenen Front des Ersten Weltkriegs; die Bedeutung systematischen Terrors für die Wirkung und Ausbreitung der SA; das Vexierbild von Entindividualisierung und Heroisierung der Männer in den Massenaufmärschen. Eben hier setzt das Buch an und geht über das Bekannte hinaus. Denn das ist ja gerade so schwer zu begreifen: wie die Selbstverneinung in einer hierarchisch strukturierten Masse zur enormen Selbstbestätigung und zur Entfesselung ungeheurer Energien werden konnte.

Die SA-Kolonne schließt sich, im Unterschied zu den großen Wahlrechts- oder 1.-Mai-Demonstrationen der Arbeiterbewegung, durch Uniform, „Professionalisierung“ (S.60) und Formierung der Kolonnen von der umstehenden Masse ab und wird zum „Massenkristall“ (Canetti). Entscheidend ist nicht mehr, daß sich möglichst viele anschließen, sondern daß die SA-Demonstration ein möglichst wirkungsvolles Bild abgibt. Die SA-Kolonne tritt selbst in eine symbolische Beziehung zu den Massen.

Das Schwergewicht der Untersuchung liegt daher auf einer Art Hermeneutik der SA-Aufmärsche. Der Autor stellt die Funktion der verschiedenen Präsentationsformen der SA -Demonstrationen dar (Vorbeimarsch, Fackelmarsch, Totenmarsch etc.), in denen die SA-Männer sich zu einer „Unterstellungsgemeinschaft“ unter den Führer formieren (61). Bei der Analyse der „optischen Ausdrucksmittel“ (Körper, Uniform, Fahnen/Standarten/Transparente, Feuer) zeigt Balistier gegenüber Wilhelm Reich, daß die Logik der „strammen Haltung“ nicht mit dem Preußisch-Militärischen zusammenfällt, sondern in der gleichsam subversiven Repräsentation des verbotenen Heeres besteht (85). Die „akustischen Ausdrucksmittel“ (Marschrhythmus, Rufe, Lärm/Geräusche) dienen der „symbolischen Vernichtung“ des politischen Gegners, der emotional erlebten „Verschmelzung“ der beteiligten Individuen zu einer ideologischen Einheit und der Befestigung eines „Chaos-Ordnungs-Diskurses“ (126), welcher die verhaßte „Systemzeit“ und das erwartete „Dritte Reich“ einander total entgegensetzt.

Systematischer Terror und ideologische Konsensmechanismen bilden einen unauflöslichen Zusammenhang: In der Besetzung von Orten und der Okkupation von Zeit verbindet sich die Totalisierung des Engagements der SA-Männer mit dem Zurückweichen der Menschen vor der inszenierten Dauerpräsenz der „Massenkristalle“, ein Zurückweichen, das früher oder später in „Überwältigung“ per Beeindruckung umschlägt.

Balistier erklärt die SA-Demonstrationen, in kritischer Anknüpfung an Theweleit, als „Ganzheitsmaschine“ (187), die der von Zerfallsängsten geplagten Generation des soldatischen Mannes eine symbolische Ordnung verlieh. Der Gefahr eines Psychoreduktionismus bei Theweleit begegnet Balistier dadurch, daß er den ideologisch-politischen Diskurs der „Volksgemeinschaft“ als eigenständige Dimension veranschlagt und in seinen Hauptbestandteilen vorführt (vereindeutigter Held, Gefolgschaft, Antizipation der „Volksgemeinschaft“, Nation und Reich, der „Sprung... aus der Geschichte in den Mythos“ (201)).

Ich habe mich bei der Lektüre gefragt, ob die übergreifende These von der „Gleichheitsmaschine“ auf der Semiologie der SA-Demonstration aufbaut - oder ob sich die Glaubwürdigkeit der Detailanalyse von Symbolen vielmehr aus der allgemeinen Theorie ergibt. Um diese Frage beantworten zu können, müßte der Status des Symbolischen in der politischen Kultur geklärt werden. Zum Beispiel die SA-Uniform. Sie „löste das zivile Individuum aus einem Bezugssystem des als ungerecht empfundenen Weimarer Ordnungsrahmens heraus und stellte den uniformierten Körper in einen neuen Ordnungszusammenhang...“ (101). Wenn allerdings die Uniform die Erlösung aus Armut und Erniedrigung mit schafft, dann ist sie nicht „Ausdrucksmittel“ einer vorgefertigten psychischen (oder sozialen) Tatsache, sondern symbolisches Produktionsmittel derselben. „Kleider machen Leute“ - das wäre auch theoretisch in einer Verknüpfung von psychoanalytischen und diskurstheoretischen Begriffen zu berücksichtigen.

Schafft also zum Beispiel das Braunhemd die Hochstimmung und männliche Opferbereitschaft zugleich? Hätte es nicht auch grün sein können? Ja und nein. Das Braun des Braunhemds hat seine Bedeutung bekommen durch den Gegensatz zur Reichswehruniform und zu allen anderen Uniformen. Es traf wohl auch „zufällig“ den Ton zwischen Obszönität (Scheiße) und Tiefe (Erde, Wald), der ein Gefühl von Ausgeschiedenheit und Auserwähltheit hervorzurufen vermochte. Ein Zeichen ist nie notwendig im Sinne einer notwendigen Konsequenz, sondern im Sinne des berühmten Strohhalms, ist eher lächerlich (wie eben diese braune Farbe), aber ohne ihn droht der Absturz.

Das Zeichen (der Signifikant) im politischen Diskurs wird in eine Lücke, eine akute Notlage gefügt und durch diese erprobt und „belastet“. Seine Bedeutung ist nicht logisch, aber auch kein Zufall, eher ein Zwischenfall, der Folgen nach sich zieht. Das Braunhemd hat nun seine Bedeutung, mit der jeder neue Träger zu rechnen hätte (was auch bedeutet, daß dieser historische Sinn langfristig veränderbar ist). In diesem technischen Sinne als „Fügung“ verstanden, werden historisch-politische Symbole nicht auf einen tieferen Sinn hininterpretiert, sondern auf ihre Verkettung in Diskursen hin entschlüsselt (decodiert). Eine Interpretation (Hermeneutik) hingegen unterstellt immer zwei „Ebenen“ der Realität, Wesen und Erscheinung, und führt daher letztlich zu einer Metaphysik von historischen Gefühlslagen, Mentalitäten oder Charakteren.

Eine konsequente Diskursanlage von „Kulturmustern“ würde auch von der Denkfigur der Kompensation Abschied nehmen, die die meisten derartigen Studien beherrscht: als kompensierten die ideologisch-politischen Symbolsysteme etwas, das „an sich“, im „wirklichen Leben“ zerstört ist (die Gemeinschaft, die Lebensgrundlage etc.). Das Symbol ersetzt nicht, kompensiert nicht das fehlende Schnitzel oder die fehlende Wohnung. (Deswegen ist auch die Hoffnung albern, die Symbole wären rückkaufbar durch mehr Schnitzel oder mehr Wohnungen.) Sie ersetzen vielmehr andere Symbole, die an dieser Stelle waren - aber, und das ist das Unheimliche daran, so als sei da nichts gewesen. Die Zeichen schaffen nicht nur eine neue Bedeutung, sondern zugleich die symbolische Lücke, in die sie eintreten und die sie sofort schließen. Jede Setzung ist im selben Moment eine Vernichtung.

Die „Braunhemden“ gewannen ihren Enthusiasmus nicht nur aus der symbolischen Repräsentation der „Volksgemeinschaft“, sondern viel mehr noch aus der riskanten wie grauenhaften Utopie, neu geboren zu werden durch die Vernichtung der symbolischen Ausstattung des alten Ichs. Das notorische Vergessen hängt damit ebenso zusammen wie das systematische Morden. Das faschistische Syndrom kann, eben da es nicht auf Kompensation beruht, weniger durch Einsicht denn durch Öffnung des symbolischen Raumes für Alternativen bekämpft werden.

Wieland Elfferding

Thomas Balistier: Gewalt und Ordnung . Kalkül und Faszination der SA. Mit einem Vorwort von Bernd Jürgen Warneken. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1989, 209 Seiten.