Mit Willy Brandt auf Wahlkampftournee

Während der als Triumphzug geplanten Reise mußte Brandt vor allem gegen die neue Resignation der DDR-SPD kämpfen / Ungünstige Wahlumfragen und mieser DSU-Stil trieben dem West-Profi die Sorgenfalten auf die Stirn / Sind Sozialdemokraten gute Kapitalisten?  ■  Aus Dresden Heide Platen

War es nun in Gera oder Weimar, als Willy Brandt sagte, Geld für die DDR komme nicht aus der „Schatulle“ des Herrn Kohl? Nein, das war in Erfurt. In Weimar hat er das „Westentasche“ genannt und in Gera die „Kasse eines Privatmannes“. In Dresden war es „Kohls Portemonnaie“. Variationen einer viertägigen Wahlkampfreise mit acht Stationen. Vielleicht waren es neun, drei davon lagen auf den Bahnhöfen der Städte. Willy Brandt schüttelte versprengten Häuflein von bis zu 300 SozialdemokratInnen die Hände. In Gerstungen war er dafür noch ausgestiegen und redete unter dem auf Blümchentapete gemalten Transparent der SPD „Bezirk Gerstungen-Untersuhl“ bei schmetternder Volksmusik. In Eisenach waren es schon weniger, in Gotha lohnte das Aussteigen nicht.

Willy Brandt, Darsteller eines lebenden Denkmals, schien hin und wieder in tiefe Sorge und in sich selbst zu versinken. Die Fahrt, die ein Triumphzug auf den Spuren seiner eigenen Geschichte, des „großen alten Mannes“ und Wegbereiters von „SPD - einig Vaterland“, hätte werden sollen, geriet eher zur Talfahrt der neuen Sozialdemokratie in der DDR. So verhalten und zurückgenommen, so in sich versunken, bei Pressekonferenzen nach unten blickend, das Gesicht, den Kopf grübelnd aufgestützt, hinter der Hand verborgen, war er vorher selten gesehen worden. Bei der großen Kundgebung in Dresden noch mehr als in anderen Städten starrte er während der Reden seiner Parteigenossen angespannt in die Menge, als könne aus ihr eine Hydra erstehen, deren vielerlei Köpfe nichts Gutes für die Zukunft verheißen. Mit der Erfahrung eines Polit-Profis führte Brandt einen Antiwahlkampf, in dem er seine ganze Energie auf den Rednertribünen verausgabte. Dort bat er, beschwor, kämpfte um jede Stimme, gestikulierte mit den Armen, als wolle er die Menge umarmen und dann fest an sich ziehen, sie vor einem politischen Rechtsruck beschützen.

Brandt kämpfte gegen die Resignation in den eigenen Reihen. Von Gerstungen bis Dresden sah er immer wieder in entsetzte, ängstliche Gesichter. Es galt, einen Prozeß der emotionalen Erosion aufzuhalten, der die GenossInnen in den letzten vierzehn Tagen erfaßt hat. Den ersten Meinungsumfragen, die der Ost-SPD einen Wahlerfolg von himmelstürmenden 54 Prozent prognostizierten, folgte die Höllenfahrt der Gefühle - in Gestalt des ganz realen Wahlkampfes, den CDU und CSU aus der Bundesrepublik exportierten und bei der DSU abluden. Mit Empörung wiesen SPDler in Dresden auf DSU-Handzettel hin, auf denen zu lesen war: „Wer bei der SED vom Stuhle fällt, wird von der SPD eingestellt.“ Schlecht Gereimtes ohne Impressum. Das seien sie nicht gewöhnt, hieß es immer wieder. Einen „sauberen Wahlkampf“ hätten sie gewollt als Folge der „friedlichen Revolution“ und mit allen Gruppen „Sicherheitsabkommen“ geschlossen. Akribisch zählten SPDler, wieviele ihrer Plakate abgerissen, zerfetzt, von Unbekannten verschmiert worden sind. Auch eingeworfene Fensterscheiben und Drohanrufe hat es gegeben. Täter? Unbekannt. Mit Verbitterung registrierten die Genossen, daß das Werbematerial der „Rechten“ unbeschädigt bleibe.

Die Stimmung ist überall bedrückt. Furcht macht sich breit, daß intensiv gestreute Gerüchte über Unterwanderung der SPD durch ehemalige SEDler wirken könnten. Sie stehen mit dem Rücken an der Wand, rechtfertigen sich und dementieren. Und klagen gleichzeitig ein. Habe nicht Helmut Kohl im Dezember Soforthilfe für die DDR angeboten, aber sein Versprechen nicht gehalten? Das Geld im Zusammenhang mit der Gerüchteküche erweist sich als wirksames Wahlkampfkonzept der Gegner, die vormals Gefährten waren. Da wehrt sich SPD -Spitzenkandidat Ibrahim Böhme mit einer Empörung, die ihm nicht auf den Leib geschneidert ist: „Bananen“ habe Kohl verteilen lassen und Schnaps, „Stonsdorfer“, sagt er mit Abscheu in der Stimme. Brandt rät, schon ein bißchen schlitzohrig: „Nehmt die Bananen, wo ihr sie kriegt, und wählt, was ihr für richtig haltet.“ Damit trifft er vielleicht eher den Kern dessen, was die DDR-BürgerInnen umtreibt, als der moralische Böhme, den der Ekel über solcherlei billige Bestechung physisch schüttelt. Die SPD hat, im Gegensatz zu Kohl, das Steuersäckel - jene „Schatulle“ oder „Westentasche“ - derzeit nicht im Gepäck. Da nimmt es sich rührend aus, wenn Willy Brandt in Dresden wieder einmal darauf verweist, daß auch Sozialdemokraten gute Kapitalisten sind, zum Beispiel bei der Bundesbank, bei Daimler, Hoesch und der Lufthansa.

Damit hat er es schwer. Selbst in den eigenen Reihen wollen die Menschen konkrete Hilfe sehen. Beim Besuch der „Gedenkstätte des Erfurter Parteitages der SPD“ (1891), einer Bauruine in der Erfurter Futterstraße, wird er regelrecht gelöchert. Ob nicht zum Beispiel die Friedrich -Ebert-Stiftung schnell Geld lockermachen könne? Brandt versucht, eine Lehrstunde über Finanzierungen zu geben. Da seien mehrere Träger zu fragen, westdeutsche Kommunen, Bundesländer. Das mit den EG-Mitteln läßt er besser, und über die Laufzeit solcher Anträge sagt er auch nichts. Auf schwankenden Bohlen im verfallenen Theater versucht er, vorsichtig, optimistisch zu sein und - wohl auch sich selbst - zu trösten: „Die Bausubstanz ist doch noch ganz gut!“