Stürzt ja die Kellner nicht!

■ Wer rebelliert, wird nicht mehr plaziert / Liebgewordene Schikane in den HO-Gaststätten

Berlin (taz) - Die Regierung ist gestürzt, die Mauer eingerissen, die Stasi aufgelöst, die Gewerkschaftsspitze abgesägt - nur eine Macht der realsozialistischen Planherrschaft hat die Revolution unbeschadet überstanden und führt nach wie vor ihr unerbittliches Regiment. Die Rede ist vom DDR-Gaststättenpersonal, den Herren über Hunger und Durst, denen nun der Preis gebührt, die standhafteste Bastion des Realsozialismus zu sein. Die Macht der KellnerInnen ist die beharrlichste und am schwersten zu stürzende Macht. Ihre Autorität ist unangetastet, ihr strafender Blick gefürchtet wie eh und je. Ihre auf der Stirn geschriebene Androhung des Nahrungsentzuges läßt republikweit den gesammelten revolutionären Mut vor der Eingangstür einer jeden HO-Gastätte schrumpfen, läßt demonstrationserprobte Familien brav im zugigen Windfang der HO-Gaststätten ausharren, auch wenn der Magen längst auf halbmast hängt. Honecker, Mielke, Sindermann - welch schwächliche Papiertiger gegen die gefürchtete Kellnerschaft!

Die unnachahmliche DDR-Gaststättenordnung - mit geheimnisvollen Plazierungsgesetzen, identitätsstiftenden Sitzreglements und Arbeitsplätze schaffendem Garderobenzwang -, sie zu stürzen bedarf schon mehr als einer Revolution. Was ist schon ein antiimperialistischer Schutzwall gegen jene unsichtbare Schranke, die das KellnerInnenregime seit Jahrzehnten mit der bloßen Kraft seines Amtes verteidigt gegen den Irrglauben, ein leerer Gaststättentisch sei dazu da, sich dort niederzulassen. Wieviel bedrohlicher als ein Schießbefehl ist der gefürchtete Anranzer aus dem Mund der schwarzweiß Uniformierten der Gastronomie? Mauern kann man sprengen, Grenzposten respektlos überrennen, Waffenlager stürmen - aber die von niemandem zu durchschauende Plazierungsordnung der Gaststätten zu ruinieren, das geht ins Mark der DDR-Gesellschaft.

Der deutsche Revolutionär von heute kauft keine Bahnsteigkarte mehr, er respektiert - und sei er noch so hungrig - die Plazierungsmacht des Kneipenpersonals. Da kann das Restaurant gähnend leer sein, die Tische im Cafe völlig unberührt - erst wenn, nach frühestens einer halben Stunde, der Ober der Meinung ist, der Gast sei nun genug gestraft für seinen unziemlichen Wunsch nach Essen und Trinken, wird „plaziert“. Und das Volk der DDR besteht auf seinem Plaziertwerden, auch wenn da gar niemand mehr ist, der den Platz zuweist. Da mag der Weg zum leeren Vierertisch noch so frei sein und kein gefürchteter Kellner weit und breit gewartet wird auf das Kommando, diesen erlösenden Fingerzeig des allmächtigen Gaststättenpersonals. Oh, lieb gewordene verhaßte Schikane, letzter Halt im allgegenwärtigen Umbruch, feste Schranke in einer vor Freiräumen nur so gähnenden Zeit! Schließlich gibt es auch ein Anrecht auf alte Gewohnheiten, auf ein letztes Stückchen Willkür und Bürokratenrache. Daß uns ja niemand die Kellner stürzt!

Vera Gaserow