DDR-Sozialdaten nicht mehr geheim

Akademie der Wissenschaften legt erstmals im „Sozialreport 1990“ bisher tabuisierte Sozialdaten vor / Einer aktuellen Umfrage zufolge ist ein Drittel der DDR-Bevölkerung „zufrieden bis sehr zufrieden“ / Sorge um Löhne, Preise und Umwelt stehen an erster Stelle  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Was jahrelang nur hinter verschlossenen Türen studiert wurde und allein die Staats- und Parteiführung in maximal zehn Exemplaren zu Gesicht bekommen durfte, ist nun öffentlich: eine umfassende statistische und soziologische Untersuchung über die soziale Lage und Befindlichkeit der DDR. Auf 350 Seiten hat das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften zusammen mit anderen Forschern im Panzerschrank liegendes Material zusammengetragen und aktualisiert. Ergänzt wird dieser Sozialreport 1990, der ab April auch im Buchhandel erhältlich sein soll, durch eine Meinungsumfrage über das soziale Wohlbefinden der DDR-Bevölkerung, die das Institut Anfang Januar durchführte.

Eine eher wenig überraschende Grundaussage der Untersuchung: die „wohl einzigartige Situation in der Welt ein durchgängiger Bevölkerungsverlust eines Landes über den gesamten Zeitraum seines Bestehens“. Dieser Bevölkerungsschwund wird nach der Prognose des Sozialreports für die Zukunft schwerwiegende Folgen haben. Denn auch ohne weitere Abwanderung in den Westen wird die Bevölkerung der DDR im Jahr 2000 auf 15 Millionen Einwohner gesunken sein, und insbesondere das Potential an Arbeitskräften wird rapide schrumpfen.

Eines der brisantesten Themen des Reports, weil bisher tabuisiert: die Selbstmord- und die Straftatenstatistik der DDR. 4.768 Menschen haben sich 1988 in der DDR das Leben genommen, darunter doppelt soviel Männer wie Frauen. Umgerechnet auf die Bevölkerungsgröße liegt die DDR mit diesen Zahlen deutlich über der Suizidrate der Bundesrepublik. Wesentlich unter dem Stand der BRD hingegen die Straftaten. Hatten die DDR-Behörden 1988 rund 120.000 Straftaten registriert, waren es in der Bundesrepublik mit einer fast viermal größeren Einwohnerzahl über 4 Millionen. Zwar waren auch in der DDR die Hälfte aller erfaßten Straftaten Diebstahldelikte. Auf dem traurigen zweiten Rang der „Verbrechensstatistik“ stehen mit 20 Prozent dann jedoch gleich die als Straftaten eingestuften politischen Handlungen. Weiterhin bemerkenswert im Vergleich: Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in dem 16-Millionen-Staat DDR ist zwar leicht zurückgegangen in den letzten Jahren. Sie ist mit 80.000 Abtreibungen im Jahr aber genauso hoch wie die offiziell registrierte Zahl in dem 61-Millionen -Einwohner-Land Bundesrepublik.

Nach der jüngsten Umfrage der Akademie der Wissenschaften äußerte sich ein Drittel der DDR-Bevölkerung alles in allem „zufrieden bis sehr zufrieden“ mit ihrem Leben. Rund die Hälfte der Befragten meinte jedoch, sie seien nur teilweise zufrieden mit ihrem Leben. Nur ein Drittel der Menschen in der DDR fühlt sich gesund und leistungsfähig. 94 Prozent der Befragten erklärten, daß sie das Gefühl von sozialer Sicherheit haben. Deutlich wird an den Statistiken des Sozialreports jedoch auch, daß es ein Einkommensgefälle gibt, unter dem vor allem die alten Menschen und die Frauen leiden. So liegt das jetzt ermittelte Einkommen der 2,8 Millionen Rentner und Rentnerinnen in der DDR am Rande der Armutsgrenze. 443 Mark beträgt die durchschnittliche monatliche Rente, wobei die älteren Frauen mit 100 Mark Rente weniger leben müssen als die Männer. Alte Menschen in der DDR müssen heute mit einem Drittel des Geldes ihrer noch arbeitenden MitbürgerInnen über die Runden kommen. Deutliche Einkommensunterschiede werden auch anhand der Sparguthaben sichtbar, die der Sozialreport erstmals genauer aufschlüsselt. Bei einem Gesamtsparguthaben von mehr als 170 Milliarden Mark in der DDR hat rein statistisch jeder Bürger 11.000 Mark auf dem Konto. Tatsächlich indes verfügen 20 Prozent der Kontoinhaber (das sind vier Millionen Sparer) über 80 Prozent der gesamten Sparsumme (120 Milliarden Mark) - im Klartext: Eine kleine Minderheit hat weit über 10.000 Mark angespart, der Großteil sehr viel weniger.

Die größten Sorgen machen sich die DDR-BürgerInnen über Löhne und Preise. Auf Platz zwei der Skala rangiert die Umweltproblematik. 80 Prozent der Befragten äußerten sich unzufrieden bis sehr unzufrieden mit der Umweltsituation in ihrem Lande. Arbeit ist nach wie vor ein als äußerst wichtig beurteilter Bestandteil des Lebens der DDR-Bevölkerung, und die DDR-BürgerInnen arbeiten - jedenfalls auf dem Papier auch länger als ihre Nachbarn. Mit 43,7 Stunden liegt die wöchentliche Arbeitszeit hier höher als in der BRD (40), Ungarn und der UdSSR (41 Stunden). Die Beschäftigten in der DDR haben weniger Urlaubstage als ihre Kollegen in anderen Ländern und gehen 2 bis 5 Jahre später auf Rente als ihre Nachbarn in West und Ost. Die reine Lebensarbeitszeit ist damit in der DDR zwar länger als woanders, wobei noch nichts über die Arbeitsbelastung und -intensität ausgesagt ist. Tatsächlich - so ergab die Umfrage - fühlen sich immerhin 43 Prozent der Beschäftigten auf ihrer Arbeit unterfordert oder zumindest teilweise unterfordert. Gut im Vergleich mit ihren Nachbarn in der Bundesrepublik liegen die DDR-BürgerInnen dagegen beim Essen und Trinken. Beim Fleischkonsum (100 Kilogramm pro Kopf und Jahr) liegen sie gleichauf mit den BRD-Bürgern, und auch Bier trinken sie beinahe auf das Glas genau soviel: exakt 143 Liter im Jahr.