Sajudis - Der haushohe Wahlsieger

Der Sieger in den Wahlen für das litauische Parlament steht nach den Stichwahlen eindeutig fest / Sajudis bedeutet Bewegung mit einem kleinen Beigeschmack von Trubel  ■  Von Ruth Kibelka

Nun, nach den Stichwahlen des vergangenen Sonntags, steht der Sieger der Wahlen zum litauischen Parlament so eindeutig wie nur möglich fest: die Bürgerbewegung Sajudis hat gewonnen. Doch wer ist sie, die „für die völlige Loslösung von der Union eintritt“ (BZ 6. 3. 1989)? Ist sie eine reine Loslösungsbewegung? Gibt es sie schon lange? Was bedeutet eigentlich Sajudis?

Erstens heißt es der Sajudis und nicht die, mit der Betonung auf der ersten Silbe (am Gebrauch des grammatischen Genus läßt sich leicht ein Sprecher identifizieren - siehe: der und die Stasi), zweitens heißt das Wort genau übersetzt „Bewegung“ mit einem kleinen Beigeschmack von Trubel und drittens trägt dieser Bürgerverband den Untertitel „Litauische Umgestaltungsbewegung“.

Die erste Sajudisgruppe entstand im Juni 1988, der offizielle Gründungskongreß fand am 22./23. 10. 1988 in Vilnius statt. Sajudis formierte sich nach dem Vorbild der estnischen Volksfront „Rahvarinne“. Die Idee zu deren Gründung wurde am 13. 4. 1988 zum erstenmal öffentlich - in einer live gesendeten politischen Talkshow des estnischen Fernsehens - geäußert. Hauptgedanke der Gründer war, mit Hilfe des Volkes den unumkehrbaren Prozeß der Perestroika im Land durchzusetzen und zu sichern. Innerhalb weniger Wochen bekannten sich ca. 40.000 Esten zu Anhängern der Bürgerbewegung und die Bewohner der Nachbarrepubliken, Letten und Litauer folgten ihrem Beispiel. Sajudis vereinigt Männer, Frauen und Jugendliche, Kommunisten und Christen, Grüne und Pazifisten, Litauer und Bürger anderer Nationalitäten, die in Litauen leben. Es gibt keine fest eingeschriebene Mitgliedschaft. Jeder kann mit Arbeitskollegen oder im Wohngebiet einen Klub zur Unterstützung der Bewegung gründen.

Schätzungsweise sind ein Viertel aller Sajudisanhänger Mitglied der KPdSU gewesen, die jetzt ihre eigene KP gebildet haben. Darunter viele Bekannte und Unbekannte, die schon vor der Perestroika mutig und integer auftraten, so z.B. der heutige Chefredakteur der Sajudiszeitung 'Atgimimas‘ (Wiedergeburt), Romualdas Ozolas, und der Vorsitzende Vytautas Landsbergis. Andere haben sich schnell als solche entpuppt, die wir Wendehälse nennen. Die im letzten Jahr gegründete Demokratische Partei Litauens wirft der Bürgerbewegung vor, sie sei eine Organisation, in der es viele Kommunisten gebe und die so der KP gegenüber nachgebe. Und gleichzeitig heißt es über die Kommunistische Partei Litauens: „Sie war in Litauen nie selbständig tätig. Nach dem ersten Weltkrieg kämpfte sie gegen die Eigenstaatlichkeit Litauens, während der Unabhängigkeitsphase wurden die Kommunisten zu den Totengräbern der litauischen Freiheit und verantworteten die schmutzigen Taten der Nachkriegsjahre. In Wirklichkeit war die kommunistische Partei niemals eine Partei nach westlichem Verständnis, sondern immer nur Herrschaftsapparat, Mittel zur Unterdrückung der Menschen. Und heute verkünden die Vertreter dieses moskauhörigen Apparates eine moskauunabhängige Partei. Unabhängig von der Stelle, dessen Werkzeug sie immer waren. Kann man das glauben?“ (Vasario 16.) Sajudis stellte auf seinem Gründungskongreß ein Konzept zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit vor und verabschiedete 33 noch heute gültige Resolutionen. In ihnen werden die derzeitige Situation der Republik genau beschrieben, bewertet und präzise Forderungen erhoben. Die Resolution beinhaltet eine Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Situation mit all ihren Mißständen, in der es unter anderem heißt: “...hat sich in alle Sphären des öffentlichen Lebens eine bedrückende Atmosphäre des Mißtrauens und der Intoleranz eingeschlichen. Die gesellschaftlich wichtigen Ideale wurden unterschätzt, die Tendenzen des moralischen und sozialen Skeptizismus und Nihilismus wurden deutlich...“.

In den weiteren gibt es Aussagen u.a. über das nationale Bildungssystem, den Status der litauischen Sprache, über Gewissensfreiheit, die territorialen Streitkräfte, die Verbrechen des Stalinismus und die umfassende Rehabilitierung, Umweltschutz, das Wahlsystem und auch über die Abschaffung der Privilegien für Nomenklaturkader, in der es heißt: „Der allmähliche Verlust an Sittlichkeit und Gewissenhaftigkeit in unserer Gesellschaft zeigt sich deutlich an den Privilegien der Funktionäre und an der Zugehörigkeit mancher Beamten zur Nomenklaturschicht. Diejenigen, die über die vorrangige Stellung der Gesellschaftsinteressen gegenüber den persönlichen gern reden, genießen Sonderrechte und Privilegien... Es wuchern Betrug und Lüge. In der Gesellschaft haben sich zwei Schichten - die der Privilegierten und die der Benachteiligten - herausgebildet...“

Sajudis hat - formuliert in diesen 33 Resolutionen - seine Vorstellung von der politischen, national-ökonomischen und kulturellen Souveränität der Republik vorgestellt und propagiert sowie Organisationsstrukturen zur Verwirklichung vorgeschlagen.