Im AKW Stendal: Die Löwen sind klug und nett

■ Besichtigung der Baustelle / Ansichten eines Kernkraftlers / Demonstrationsvorbereitungen in Stendal / Die „Gewaltfrage“ am Zäunchen

„Greifswald wäre auch ohne bundesdeutsche Sicherheitskommission in zwei, drei Wochen vom Netz gegangen.“ Heinz Vehma, Technischer Direktor auf der Baustelle des Atomkraftwerks Stendal, relativiert die Mängelliste des maroden Reaktors. Immerhin hätte der schon 15 Jahre auf dem Buckel und habe kurz vor seiner Generalüberholung gestanden.

Vehma selbst zeigt uns, einer fünfköpfigen Pressedelegation, „seine“ Baustelle. Für das ungewöhnlich große Gelände von 365

Hektar fahren wir im kombinats eigenen P 2000. Stopps am Reaktorgebäude, am Maschinenhaus und bei den Kühltürmen. Wir klettern bis ins künftige Abklingbecken für ausgebrannte Brennelemente, tappsen über die Heiße Zelle, begutachten das Fundament für den Turbinentisch und ersteigen die einzelnen Kondensatoren. Unter den Kühltürmen zeigt Vehma uns die Asbestlamellen, über die das Wasser läuft, um auf seine ursprüngliche Durchschnittstemperatur von 22 Grad herunterzukühlen. Superkräne

werden vorgeführt, die 200 Tonnen heben und die komplett montierten Kuppelringe aus Stahl und Beton in die Höhe von 60, 70 Metern hieven. Die Einzelteile werden in einem Hüttenkombinat in Halberstadt hergestellt. Wie die Ameisen wuseln die Arbeiter, die hier täglich zwölf Stunden abreißen (acht Tage arbeiten, sechs Tage frei) durch das Labyrinth von Leitern und Gerüsten. Zur Zeit sind es etwa 8.500, drei ehemalige Stasibeamte aus der Baustellenüberwachung sind ebenfalls darunter. Hier wird geschweißt, da gesandstrahlt, dort rostet wieder ein Stahlring, weil der Reaktor von oben noch offen ist. Nichts, was uns nicht erklärt wird. Die Experten der DDR klotzen mit ihrem Fachwissen.

Totgeschlagen mit Zahlen, Hebetonnen und Sicherheitsventilen, beschwert mit meterdicken Betoneinschalungen und Stahldurchmessern, sitzen wir nach zweieinhalb Stunden wieder in Vehmas Büro. Die Unsicherheit in der Bevölkerung resultiere im wesentlichen aus einer falschen Informationspolitik. „Wir durften ja jahrelang nichts sagen“, versucht er die Zeit der SED-Herrschaft zu charakterisieren: Atomenergie als Propagandaproblem.

Die DDR, so doziert der Atomwerker freundlich, aber bestimmt, sei energiepolitisch auf dem richtigen Weg. 1,5 Milliarden Ostmark verbaut das Land derzeit nach offiziellen Angaben pro Jahr auf der Stendaler Baustelle, wenn es nach Vehma ginge, könnten es ruhig mehr werden. Vielleicht öffnen sich da Möglichkeiten nach der Wahl: „Allein Ihre Arbeitsproduktivität liegt um 40 Prozent höher als bei uns“. Mit Siemens/KWU hätten die Werktätigen nach der Wahl nichts zu lachen.

Szenenwechsel in die Stadt selbst: Matthias Stütz von der Grünen Partei, die offiziell zur

Demonstration morgen aufruft, hat die letzten Vorbereitungen abgeschlossen. Es gibt sowohl mit dem Volkspolizeikommissariat als auch mit den Vopos auf dem Baustellengelände „Sicherheitspartnerschaften“. Mittlerweile fürchten die Veranstalter nämlich

die Seitenschneider der Bundis. Stütz: „Wir bieten den DemonstrantInnen eine Art Ersatzmilitanz.“ Die Sicherheitskräfte tolerieren als Protest grüne Bändchen mit Luftballons am Zaun.

Vor einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Bundis ha

ben die DDR-AtomgegnerInnen Angst. „Wenn es zu Krawallen kommt, werden wir die Veranstaltung sofort verlassen“, erklärte Malte Fröhlich, Atomkraftgegner vom Neuen Forum in Stendal, deutlich warnend in Richtung autonome Szene. Ein Treffen mit AtomgegenerInnen aus der BRD über eine einheitliche Verhaltensstrategie war ergebnislos verlaufen. Fröhlich befürchtet nun, daß die auf Anti-AKW-Demos gebeutelten Bundis die Gelegenheit nutzen, ihre aufgestaute Wut am Karnickelzaun der Baustelle abzureagieren. „Wir konnten den Leuten nicht klar machen, was sie hier bei uns politisch zerstören würden“, faßte Fröhlich die Diskussion zusammen. „Die Volkspolizei ist aber auch auf diese Situation vorbereitet“, versicherte Stütz der taz.

Auch auf anderen Gebieten arbeiten AKW-Betreiber und Geg nerInnen zusammen. Die Lautsprecheranlage ist vom Kernkraftbaukombinat, ein Klo wird gestellt und der Bühnenwagen ist KKW-eigen. Als Ersatz steht in Notfällen eine zweite Ausrüstung aus dem Wendland zur Verfügung, mit Notstrom aus einem Diesel. Markus Daschne