SEX IM ESSZIMMER

■ Das Erkenntnismöbel oder Die Entdeckung des Unterleibs im Körper der Sitzbank

Obwohl das Möbelstück seit jeher zum Kindheits-Raum des Mädchens gehört hatte, wurde es erst dann zum Gegenstand ihres forschenden Interesses, als es, bis dahin blind, begann, die Schrift, die dieses wuchtige Objekt im Eßzimmer der Familie doch schon immer zur Schau gestellt hatte, als ein Geheimnis zu entdecken, das dem kleinen Kind bis dahin gerade durch seine ununterbrochene Anwesenheit verborgen geblieben sein mußte. Indem das Mädchen, zu der Zeit vielleicht zehn Jahre oder wenig älter, mit seinen Fingern die Zeichen entzifferte, wußte es um die nun notwendige Heimlichkeit dieses Aktes - oder womöglich war es umgekehrt: es war dem Kind, auch die Frau weiß später nicht mehr wie, ein Rätsel zugeflogen, zu dem ihm dieses bislang selbstverständlich-gedankenlos benutzte Möbel einen Schlüssel anzubieten schien.

Im Familiengebrauch hieß es die Bank. Jedes der Geschwister hatte einen Großteil seines kleinen Lebens schon mit ihr zugebracht. Zu allen Mahlzeiten war sie jeden Tag Sitzgelegenheit; das jeweils jüngste noch mittagsschlafpflichtige Kind mußte auf ihr ruhen und zog zu dem Zweck aus der Bettwäschentruhe unter der Sitzklappe die bereitliegenden Kissen und Wolldecken hervor; die zweite Klappe, Teil der Rückenlehne, beherbergte Spiele und Fotoalben; darüber gab es zwei Regale, die großformatigen Kunstbänden vorbehalten waren. Man spielte gemeinsam Halma und Fang den Hut am Eßtisch, hockte auf der Bank bei den Schulaufgaben, und man schaute sich auf Bildern an, wie Eltern, Tanten und Onkel als Kinder gespielt, gegessen, gearbeitet hatten.

Zu jener Zeit hatte das Mädchen schon entdeckt, daß Tisch, Stühle und Bank auch äußerlich zusammengehörten; alle waren aus schwerem, dunkelrotbraunem Holz und wiesen Verzierungen auf, unter denen sich zuerst die der Stuhlrückenlehnen als verwertbar erwiesen hatten, da man seine Finger durch die geschnitzten Löcher, die aufgerissene Mäuler von Ungeheuern darstellten, durchstecken konnte, um die Katze zu foppen.

Im Unterschied zu allen genannten Beschäftigungen um Bank, Tisch, Stühle erforderte jene neue ausdrücklich Alleinsein das Mädchen fragte deshalb nicht, ob die Brüder ihr auch nachgingen -, und sie galt ausschließlich der Bank. Es ging darum, die Brüste zu fühlen. Mit den Fingern fuhr das Mädchen, sorgfältig und unruhig zugleich, über die kleinen Halbbälle, die keine Brustwarzen besaßen, was sie aber erst viele Jahre später bemerkte, als sie - nunmehr erwachsen und mit legitimem familienarchäologischem Interesse - die immer noch im elterlichen Eßzimmer stehende Bank untersuchte. Zu der Zeit auch kam es ihr in den Sinn, die Brüste zu zählen, nachdem ihre nun viel plumperen Finger sich an das warme Gefühl der Rundungen - merkwürdigerweise war das Holz nie kalt - sofort genau erinnern konnte.

Es sind also genau sieben Brüste, da eine Frau im Körperprofil abgebildet ist. Diese Einzelbrust ist aber vermutlich die am häufigsten erfaßte, da sie zum einen für das Mädchen am günstigsten und unauffälligsten zu erreichen war - sie befindet sich auf der Rückenklappe der Bank - und zum anderen stärker hervorspringt als die sechs anderen, insofern die dargestellte nackte Frau auf hölzernen Wellen kniet und den Oberkörper weit vorstreckt, dem ihr zugeneigten nackten, halb als dem Wasser ragenden Mann entgegen, so daß ihre Brust gewissermaßen schräg herunterhängt. Im Gegensatz zu den drei anderen sichtbaren Brüsten - Besitzerinnen, die - zwei unten, eine oben Säulenfrauen oder Simsträgerinnen sind, deren Körper kurz unterhalb des Bauchnabels in einer unklaren Überblendung von Schärpe, wuchernden Blättern und Früchten verschwindet, ist jene Frau auf der Szenerie der Rückklappe von oben bis unten vollständig, und das Mädchen konnte mit den Fingern von jener einzelnen Brust über Schulter und gebogenen Rücken zum gereckten Hintern in Seitenansicht gleiten und dann noch weiter über einen kräftigen Schenkel bis zu den Zehen des rechten Fußes.

Schon das kleine Mädchen hatte, ehe ihm an einzelnen Gliedmaßen gelegen war, das Bild als ganzes schauend verstanden. Auf der Rückenklappe spielen Meereswesen in den Wellen. Eine Frau hält ein Kind, ein Mann einen Ball, ein anderer bläst in ein Muschelhorn, eine Fontäne steigt auf, ein großer Fischschwanz schlägt in der Luft. Die geschnitzte Szene enthielt aber auch vor jenem markierten Zeitpunkt schon Rätsel für das Kind: Wem gehörte das Bein, das aus den Wellen ragte? Drückte etwa ein Mann einen fremden Kopf unter Wasser? Wieso wuchs direkt aus dem Kopf des Ungeheuers ein Fischschwanz? Und wie konnte die Frau mit der Brust auf dem Wasser knien, ohne unterzugehen? Später bedauerte sie bei ihren Fingerwanderungen, daß zwei Frauen ihr den Rücken zuwandten; so konnte sie zwar oberhalb der Wellen bei der einen die Hinternritze befühlen, aber die andere war ganz unergiebig. Sie hätte sie gerne zu sich herumgedreht, um die hinten verborgenen Brüste anzufassen; denn Arme und Beine interessierten sie nicht.

In der Gymnasiumszeit, als sie in perspektivischem Zeichnen geschult wurde, fiel der Schülerin die räumlich-anatomische Unzulänglichkeit des Bankkunstwerks auf: die meisten Extremitäten waren verkehrt in Vorder- und Hintergrund angebracht. Die Wahrnehmung des Mädchens hatte sich da schon von den Fingern in den Kopf verlagert, und sie griff jetzt in das Regal über der Meeresszene, in dem die „Blauen Bände“ standen - eine kunstgeschichtliche Reihe, deren Themen von ägyptischen Hieroglyphen bis zu den deutschen Trachten reichten; unter ihnen erwies sich der Band „Griechische Plastik“ als besonders nützlich für ihr nunmehr die Auskunftsfähigkeit der Seejungfrauen überforderndes Interesse. Darin enthalten waren nämlich Fotografien vielfach unbekleideter Göttinnen und Götter, so auch die Säulenfrauen des Korentempels auf der Akropolis. Die „Kore“ und „Karyatide“ gingen früh in ihren Besitz über, und sie konnte nun die Schrankträgerinnen mit den Tempeldachträgerinnen vergleichen, wobei sie die Feststellung machte, daß die unter dem dünnen steinernen Gewand sich durchdrückenden Brüste sie inzwischen stärker beschäftigten als die hölzernen nackten - nicht nur weil sie unter dem Kleid Brustwarzen erriet.

Es schienen nun weder die Banknixen noch die griechischen Akte ihrer Erkenntnislust vollkommen genügen zu können - sie kannte ja alle vorhandenen Brüste -, und um die in den Bildbänden neu hinzugekommenen männlichen Geschlechtsteile, die auf dem Bankrelief von Wellen oder Blattranken verdeckt waren, sowie die unbehaarten und wenig bemerkenswerten weiblichen ging es ihr nach einem kurzen erschöpfenden Studium ohnehin nicht mehr. So begann sie, den Bestand an Material zu erweitern, indem sie selber Frauen malte und sich dabei auf die Formung ihrer Brüste konzentrierte. Sie legte noch einmal jenen Weg vom Fühlen über das Schauen zum Nichtsehen zurück. Erst zeichnete sie vollständig nackte, später lieber durchsichtig oder gerade eben bekleidete; bis sie sich endlich aufs Lesen verlegte.

Begrifflich entzifferte sie sich die Vollkommenheit der Kindheitsbank erst sehr viel später, als sie als erwachsene Frau bei Elternbesuchen wieder darauf saß; da hatten sich die Inhalte der Sitztruhe und des rückwärtigen Fachs längst geändert: sie boten nun Landkarten, Atlanten und Reiseprospekten Raum, und die damaligen Schwarzweißbildbücher waren gegen opulentere bunte Kunstbände ausgetauscht. Ihr fiel jetzt auf, wie bestimmte hervortretende Partien der bildhaften und ornamentalen Holzreliefs, die die Bank schmückten, besonders glänzten: blankgerieben und hellgegriffen von vergangenen Berührungen. Sie begriff die Bank jetzt als eine totale: sie hatte zum Sitzen, Schlafen, Essen, Schauen, Fühlen, Reden gedient, zum Blick in die Welt, in Märchen, in private und öffentliche Geschichte. Sie dokumentierte unaufhebbare Hierarchien: unten tragen nur Frauen die Sitzplatte, oben rechts und richtig steht ein Mann und links und zweitrangig eine Frau. Unten tummelt sich die nackte Natur, und oben stehen Bücher, die die Welt ordnend verdoppeln.

Und die Bank zog Grenzen: ein wirkliches Unten gab es nicht. Endgültig war die Wellenlinie ins Holz geschnitten, bis zu der hin Nacktheit möglich war. Nun fand sie die Bank ideologisch und prüde. Ein mythologischer Vorwand hatte dem Künstler - und es war sicher ein Mann - für die Darstellung unbekleideter Körper an Wohnzimmergegenständen herhalten müssen. Ihr Verstand unterstellte Verdächtigungen und wollte sie das Mädchen vergessen machen.

Doch nichts, nichts hätte ihr je das Gefühl in den Fingern beim Betasten der hölzernen Brüste von den Meerfrauen an der Bank im Eßzimmer ihres Elternhauses ersetzen können.

Christel Dormagen

Aus: Mein heimliches Auge. Konkursbuch.