: FREIZEIT HEUTE UND GESTERN
■ Wir stehen da, wo unsere Vorfahren im Mittelalter bereits waren
Die aktuelle Freizeit-Debatte erweckt vielleicht den Anschein, es habe noch nie soviel Freizeit gegeben wie heute. In Wirklichkeit stehen wir aber da, wo unsere Vorgänger im Mittelalter bereits waren.“
Ueli Mäder, der Autor des Buches Frei-Zeit. Fantasie und Realität (rotpunktverlag, Zürich 1990), räumt mit solch einfachen Vergleichen alle Fortschrittseuphorie beiseite. In Zahlen ausgedrückt, kam ein Handwerker im 13. Jahrhundert bei einem sechzehnstündigen Arbeitstag auf ungefähr 2.300 Jahresstunden Arbeitszeit (die „frey zeyt“ belief sich auf 52 Sonntage und rund 100 Festtage), im 18. Jahrhundert wurde die Arbeitszeit auf circa 4.000 Jahresstunden und mehr (in Manufakturen und Fabriken) angehoben, und erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erkämpfte die organisierte Arbeiterbewegung eine allmähliche Verkürzung. Die Freizeit stieg wieder an.
Die quantitative Seite sagt aber wenig über die Inhalte dieser Freizeit aus und kann auch nicht als alleiniger Maßstab für die frei verfügbare Zeit genommen werden. Es ist eine Definitionsfrage, ob beispielsweise Hausarbeit und Kindererziehung oder do-it-yourself-Tätigkeiten als gesellschaftlich notwendige Reproduktionsarbeiten verstanden oder unter der Rubrik „Hobby“, d.h. als Freizeitbeschäftigung abgebucht werden. Während solche Probleme noch relativ differenziert durch die Sozialforschung behandelt werden, bleibt die Qualitätsfrage in anderer Hinsicht offen. Seit sich die „Poren der Arbeit“ schlossen, wie Marx den kapitalistischen Arbeitsprozeß charakterisierte, wurden die Regenerationsphasen der Arbeitskraft in den Freizeitbereich ausgelagert. Damit stellt sich beispielsweise auch die Frage, ob Entspannungs und Erholungsbedürfnisse und ihre gängigen Befriedigungsformen durch Medienkonsum den Freizeitaktivitäten oder nicht doch dem Arbeitsprozeß zuzurechnen sind. Wer unter Freizeit frei verfügbare Zeit für Selbstentfaltung außerhalb der Arbeitssphäre versteht, wird sich schwer tun, beim Hin- und Herrechnen viel übrig zu behalten. Andererseits gibt es die vom Arbeitsprozeß „Frei„gestellten, die Alten und die Kranken. Leben sie im Zeit-Überfluß oder im gesellschaftlich verordneten Leerlauf?
Generationen von Sozialforschern haben sich diesem Thema gewidmet und zahllose „Wenn“ und „Aber“ auf theoretischer Ebene formuliert. Ueli Mäder reißt etliche Problembereiche an, ohne sich in theoretischen Argumentationssträngen zu verlieren. Er überlegt konkret, was mit der real existierenden Freizeit geschieht und wägt dann „Chancen“ gegen „Gefahren“ gängiger Freizeitgestaltung ab. Sein Interesse gilt den „marginalen Ansätzen selbstbestimmter Tätigkeit“, die in eine „umweltgerechte, sozial verantwortliche und genußreiche Lebensweise“ einmünden könnten. In den unterschiedlichsten freizeitrelevanten Bereichen spürt er ihnen nach. Die vielen kleinen Ansätze führen ihn jedoch immer wieder auf gesellschaftliche Problemlagen zurück, denn „vielfältige Verknüpfungen zwischen Freizeit, Wirtschaft und Gesellschaft erfordern den Einbezug der ganzen Lebenswelt.“
Am engagiertesten bezieht Mäder zum Tourismussektor Stellung. Hier schlägt seine berufliche Vergangenheit als Sekretär des schweizerischen „Arbeitskreises Tourismus und Entwicklung“ zu Buche. Die von ihm vertretenen Forderungen nach einem sozial- und umweltverträglichen Tourismus machen deutlich, daß gesellschaftliche Schritte für einen Demokratisierungsprozeß nötig sind: Die Rolle der Freizeitpädagogik sei eng begrenzt, um neue Freizeitqualitäten zu lehren; wesentlich wirkungsvoller seien strukturelle Eingriffe in die politischen Rahmenbedingungen und neue Wege zur Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie.
Christel Burghoff
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