Ein historisches Riesenpuzzle

■ Interview mit Christopher Simpson, der bei „Hotel Terminus“ Marcel Ophüls assistierte und für die Dokumentation zuständig war

taz: Den Credits zufolge waren Sie Regieassistent und außerdem für die Dokumentation zuständig. Was heißt das im einzelnen?

Christopher Simpson: Im Englischen heißt es „Research Director US“ und „Assistant Director“. Ich arbeitete für Marcel in den Vereinigten Staaten, um herauszufinden, wo die Leute wohnten, die er befragen wollte, und ich beschaffte ihm das Hintergrundmaterial über die jeweilige Person und ihre Verbindung zu Barbie. Wenn wir dann zum Beispiel bei Eugen Kolb oder Erhard Dabringhaus waren, hatte Marcel immer ein kleines Dossier über die Beziehung dieser Personen zum Fall Barbie.

Meine Aufgabe war, ihn mit dem nötigen Handwerkszeug zu versorgen. Das heißt, wenn wir mit CIC-Agenten (CIC amerikanischer Geheimdienst) wie Taylor oder Kolb oder anderen sprachen, konnten wir ein Papier herausziehen und sie damit konfrontieren und fragen: „Was sagen Sie dazu? Das widerspricht Ihrer Aussage.“ Die Dokumente halfen uns, ihre Aussagen zu durchlöchern. Zu der Zeit, als wir mit diesen Personen sprachen, hatten sie sich schon längst ihre Entschuldigungen ausgedacht. Deshalb war es nötig, hinter die Fassade zu gelangen. Das war die Funktion des Dossiers.

Der andere Teil meiner Arbeit für Marcel umfaßte systematische Archiv-Recherchen und „Freedom of Information Act„-Recherchen, um zu bestimmten Regierungsakten über Barbie Zugang zu erhalten. Der „Freedom of Information Act“ ist ein amerikanisches Gesetz, dem der Gedanke zugrunde liegt, daß in einer Demokratie die Dokumente, die die Regierung hervorbringt, dem Volk gehören. Wenn die Demokratie wirklich funktionieren soll, müssen die Menschen wissen, was die Regierung tut. Die offizielle Version reicht nicht aus - man muß wissen, was die Regierung tatsächlich tut.

Wir benutzten diese Gesetze und Archive, um ein möglichst genaues Bild von Barbies Aktivitäten für die Amerikaner zu gewinnen. Wie sah sein Agentennetz aus? Von welchen Amerikanern wurde Barbie beschäftigt? Welche Agenten beschäftigte Barbie seinerseits? Welche Verbindungsleute hatte er? Mit dieser Methode konnten wir auch Orte aufspüren, an denen Barbie sich aufgehalten hatte, wo seine Vorgesetzten saßen, wo er und seine Mitarbeiter gelebt hatten. Im Film kommt beispielsweise das Haus der Gebrüder Grimm vor, auf das wir in Akten über Barbies Mitarbeiter stießen. Eine seiner wichtigsten Verbindungen zum Nazi -Untergrund lief über die Schwestern Schmidt, die in diesem Haus lebten; den Akten zufolge war dieses Haus eine Verbindungsstelle zum Nazi-Untergrund geworden.

Natürlich gibt die Regierung nicht einfach irgendwelche Akten über ihre Geheimagenten heraus. Deshalb wurde das Ganze eine Art historisches Riesenpuzzle mit vielen kleinen Teilen, vielen fehlenden und zerstörten Teilen und sogar solchen, die in erster Linie dafür da waren, Verwirrung zu stiften. Es gibt wirklich Beispiele dafür, daß die Regierung im Fall Barbie während der vierziger und fünfziger Jahre absichtlich falsche Dokumente angelegt hat. Aber wie auch immer - es war ein ungeheuer kompliziertes Puzzle.

Es ist eine verbreitete Vorstellung, daß es nicht genügend Unterlagen oder Dokumente gäbe. Das Gegenteil ist der Fall: in den Archiven herrscht schierer Überfluß. Es gibt Lagerhallen voller Papiere, und schon das Verzeichnis dieser Lagerhallen füllt ein ganzes Buch. Die Schwierigkeit ist nicht, daß es zuwenig dokumentarisches Material gäbe, die Schwierigkeit ist, in dieser Menge das Relevante zu finden und es richtig zu verstehen. Die Akten wurden nicht dafür angelegt, damit in ferner Zukunft die Ereignisse erklärt werden können. Es gibt nirgendwo eine Akte, die „die wahre Geschichte des Klaus Barbie“ enthält. All diese Dokumente entstehen als Nebenprodukt der bürokratischen Mühlen. Um also etwas über Klaus Barbie herauszufinden, muß man zuerst einmal den speziellen bürokratischen Vorgang identifizieren, mit dem er in Verbindung gebracht werden könnte. Und wenn es um Geheimagenten geht, gibt es noch eine zusätzliche Schwierigkeit oder eine zusätzliche Herausforderung, weil es besondere Vorschriften gibt, durch die diese Akten unter Verschluß gehalten werden. Wenn also die Hauptakte nicht zugänglich ist, muß man andere, zugängliche Akten finden, die einen Einblick in den Vorgang erlauben. Und genau das taten wir. Wir waren zu dritt, und wir untersuchten den Telegrammverkehr zwischen Allen Dulles, der damals in Bern saß, also nicht allzuweit von Lyon entfernt, und London, Algier und Washington, um auf diese Weise herauszufinden, was Dulles für Verbinungen zur französischen Resistance, zu Klaus Barbie und zum deutschen Widerstand hatte.

Was können Sie über Ihre Zusammenarbeit mit Marcel Ophüls sagen?

Ich habe das sehr genossen. Es war harte, kreative Arbeit, es war sehr herausfordernd.

Marcels Interviewfähigkeiten sind bemerkenswert. Ich arbeite selbst mit Interviews, und ich kenne viele andere Journalisten, die das auch tun, Marcel ist ohne Übertreibung einer der besten, wenn es darum geht, Leute auszuholen, das Ungesagte herauszukriegen, die Leute soweit zu bringen, daß sie sich selbst verraten.

Wenn man mit jemandem spricht, gibt es immer einen Moment, in dem er sich verrät. Eine Geste, ein Versprecher, eine Äußerung, irgendwas in der Art, und man denkt sich, Aha! Jetzt hab‘ ich's! Jetzt weiß ich, wo diese Person herkommt! Und genau danach sucht Marcel, und genau das läßt er die Leute im Film vorführen. Natürlich sind die Stellen, die Marcel für den Film auswählt, nicht unbedingt die schmeichelhaftesten für die jeweilige Person. Aber nichtsdestotrotz ist es das, was sie gesagt hat. Was Marcel interessiert, ist nicht in erster Linie, wo Klaus Barbie am 15.April 1945 oder an irgendeinem anderen 15.April gewesen ist, sondern was die Leute, die etwas mit Klaus Barbie zu tun hatten, über ihn dachten.

Woher kommt es Ihrer Meinung nach, daß sich einige der CIC -Agenten erinnern und andere nicht?

Da ist zunächst einfach der Faktor Zeit. 40 Jahre waren vergangen - da läßt die Erinnerung einfach nach. Andererseits erinnern sich die Leute an das, woran sie sich erinnern wollen. Und sie tun das ganz aufrichtig - sie würden selbst einem Lügendetektortest bestehen. Dennoch ist ihre Erinnerung falsch. Denn sie haben sich eine Erinnerung oder eine Erklärung für das, was sie zu jener Zeit taten, zurechtgelegt.

Solange man ihnen nicht ein Dokument mit ihrem Namen drauf vorlegen kann, aus dem hervorgeht, daß sie 1948 an einem bestimmten Ort waren und dort mit Klaus Barbie gesprochen haben, behaupten sie: „Ich habe nie von diesem Kerl gehört; wer ist das überhaupt?“ Der Interviewer muß etwas in der Hand haben. Er muß in der Lage sein zu sagen: „Hier steht klipp und klar, in welcher Beziehung Sie zu Klaus Barbie standen; jetzt erzählen Sie mir etwas darüber.“

Was halten Sie von diesem Desinteresse des CIC an Barbie und anderen, die angeworben wurden? Konnten Kolb und andere wirklich glauben, daß die SS gefangene Widerstandskämpfer korrekt nach den Regeln des internationalen Rechts behandelt hatte?

Der CIC verfolgte eine Ziel, nämlich, bestimmte Informationen über Deutschland zu bekommen. Barbie war ein Werkzeug zu diesem Zweck. Man wollte einfach nichts hören, was die Effizienz dieses Werkzeuges beeinträchtigt hätte. So nahmen sie es einfach nicht zur Kenntnis, selbst wenn sich etwas direkt vor ihrer Nase abspielte.

Diese Einstellung, die bewußte Ignoranz gegenüber dem, was die Nazis getan hatten, schuf eine Atmosphäre, in der man nur sehr schwer herausfinden konnte, ob einer ein Doppelagent war. Wenn man jemanden als Spion anwirbt, muß man alles über die jeweilige Person wissen - das ist die Grundregel. Alles über seine Liebschaften, ob er Drogen nimmt, wie es um seine Finanzen steht usw. Warum man das wissen muß? Nun, um ihn kontrollieren zu können! Aber hier haben wie den Fall, daß der CIC - aus ganz spezifische psychologischen und politischen Gründen - gar nicht wissen wollte, daß einige seiner Agenten in Deutschland Massenmörder waren. Und das führte dazu, daß es Heerscharen von Geheimagenten gab, über deren Vergangenheit die Vereinigten Staaten überhaupt nichts wußten.

Manchmal wurde man nicht einmal danach gefragt, was einer während des Krieges getan hatte. Es ist eine völlig falsche Vorstellung, daß Taylor oder seine Vorgesetzten sich irgendwelche moralischen Gedanken über Klaus Barbie gemacht hätten; darüber, ob man wirklich einen Klaus Barbie brauchte, um unsere „Freiheit“ zu schützen. Man hat diese Leute einfach en gros angeworben und sich schlicht geweigert, die moralische Dimension zur Kenntnis zu nehmen. Und jedesmal, wenn die moralische Dimension sich trotzdem bemerkbar machte, wenn die französische Resistance oder die Französische Jüdische Gemeinde ankamen und sagten: „Diese Person ist ein Folterer“, unternahm der CIC alle Anstrengungen, das zu unterdrücken. Moralische Bedenken wurden entweder ignoriert oder unterdrückt.

Das Gespräch führten Gaby Körner und Andreas Eisenhart