VERKABELTES ROKOKO

■ Hermann Glaser eröffnete das Colloquium „40 Jahre Kunst in der Bundesrepublik“

Es war einmal ein deutscher Philosoph, der wollte, unser Wesen solle an der Nichtigkeit genesen. Hineingehalten ins Nichts und immer schon darüber hinaus wurde das solchermaßen postulierte Dasein die erschreckendste deutsche Selbstbehauptung, und Heidegger ein guter Rektor für den Anderesvernichtungsstaat.

Es war einmal ein deutscher Kulturreferent, der wollte, unser Wesen solle am Unbehagen genesen. Selbstaffirmation der Kultur, ihr Warencharakter und ihre Funktion als nationale Aufladestation - der Nürnberger Kulturreferent, SPD-Berater und umherwandelndes omnipräsentes Bildungsversatzstück-Lexikon, Hermann Glaser, glaubte, uns am Freitag abend in der Akademie der Künste in seinem Vortrag mit dem Titel „Fluchtpunkt 2000 - das Behagen in der Kultur“ zur Eröffnung des eineinhalbtägigen Colloquiums des Deutschen Kulturbundes über 40 Jahre Kunst in der Bundesrepublik mit Hinweisen wie „logischer Negation“, „anthropologischer Verunsicherung“ und „ontologischer Infragestellung“ von umserem 40jährigen Weg in die direkte Kulturlosigkeit abbringen und zur Umkehr bewegen zu können. Indem er erklärte, unser Fluchtpunkt müsse sich mit unserem Herkunftspunkt decken; er sah die Rückwärtsgewandtheit mit realutopischen Wegweisern bestückt.

Was uns blendete und wovon wir abdrehen müßten, sei die Postmoderne, weil in unbehaglichem Maße auf Behagen zielend: anything goes, all is pretty, don't worry, be happy. Protestantischer Grübelgestus zeigte uns die Gefahr eudämonistischer Sorglosigkeit. Kultur, so lautete die Diagnose, sei zur bloßer Farbigkeitsbedarfsdeckung degeneriert, zur Inkompetenzkompensationskompetenz. „Wir leben im verkabelten Rokoko.“ In der zynisch zur Schau gestellten Kastastrophentheorie. „Behübschung“ heiße die Devise der Stadtentwicklungsplanung; Claude Levi-Strauss‘ „Bricolage“ habe zur Schau-, Dekorations- und Versatzstückkultur geführt. Die Posthistorie stehe einer Wertarbeit entgegen, betreibe nunmehr Geschichtskult. Mythologie habe die Oberhand über Analyse gewonnen, Kritik sei selbst der Ästhetisierung verfallen.

Im Rückgriff auf Freud, dem angesichts unserer „Kultur“ ein Unbehagen kam, weil er in ihr das Ergebnis von Triebbändigung und Nutzung von Triebenergie zu triebfremden Zwecken, sprich Sublimierung, und die Möglichkeit ihres Umschlags ins Gegenteil sah, erklärte Dr. Glaser dieses Unbehagen zum Ausweis von Kultur schlechthin - wobei die von Freud mitgemeinte Verdrängungsleistung nicht berücksichtigt, das Unbehagen auf Begriffsarbeit verkürzt wurde.

Kultur, welche da sei „Ringen um Wahrheit“, „sinnliche Anschaulichkeit der W-Fragen“ (woher kommen wir, wohin gehen wir, was wollen wir), müsse, so sein Plädoyer, vor sich selbst gerettet werden. Um sich zurückzufinden, müsse sie sich auf die drei großen A zurückbesinnen: Antinomien, Ambivalenzen und Aporien. Mit ihnen wäre eine negative Anthropologie zu entwickeln, deren Leistung darin bestünde, die Tatsache, daß sie kein Bild vom Menschen hat, plausibel zu machen.

Wir ahnen, was folgt: Die Dialektik der Aufklärung müsse erneut dialektisiert werden; die Fehlentwicklung der analytischen Vernunft aufgehoben werden ohne Aufgabe der Vernunft. Wie Jean Pauls „Quintus Fixlein“ empfahl Glaser uns, zwischen Sphärenflug und Furchendasein hin-und herzupendeln. Neben Gleitflugkünsten wären Blutereigenschaften zu entwickeln: „Wunden offenzuhalten“, „Vernarbungen entgegenzuwirken“ - ein christlicher Topos übertrumpfte den anderen, höchstes Unbehagen machte sich angesichts dieser Negationshäufungen breit. Adorno selbst wurde in diesen Ausführungen zum Jargon der Eigentlichkeit frivolisiert.

Da half auch nicht der Hinweis, daß der Freiheitsruf „Wir sind das Volk“ nicht umgemünzt und festgeschrieben werden dürfe als politischer Anthropologismus. Mens sana in corpore sano, als Beleg für eine geschichtliche Indikativierung einer literarischen Konjunktivform zitiert, ist meines Wissens bis heute ein Optativ. Mit verschriebenem Unbehagen wird mit Sicherheit keine Kultur herbeioptiert. Trotz aller Versuche kulturpolitischer Tranquilisierung dürften wir zudem kaum an einem Mangel an Unbehagen leiden, eher daran, daß wir den behaglichen Ort (Topos) nicht finden, um von ihm aus den Nichtort (Utopos) zu projizieren.

Michaela Ott