„Bisher war das ja ein Hirngespinst“

■ Kleingärtner im Grunewald müssen den Tag der Wiedervereinigung fürchten / Acht Jahre später ist ihr Pachtvertrag nämlich kündbar / Forstamt würde die Kleingarten-Kolonie jetzt gerne „dem Wald einverleiben“

„Wir werden nicht in Panik ausbrechen“, sagt Joachim Jeschke, der zweite Vorsitzende der Kleingartenkolonie Grunewald. Trotzdem fingert der Laubenpieper unruhig an der Klarsichthülle, die den Pachtvertrag der Kolonie enthält. In ihm haben das Forstamt und der Senator für Wirtschaft und Ernährung am 25. April 1953 den Gärtnern der Kolonie Grunewald zugesichert, ihr Pachtverhältnis sei „frühestens kündbar acht Jahre nach der Wiedervereinigung von Ost- und West-Berlin“.

60 Jahre alt ist Jeschke, hat als Kind Krieg und „Zusammenbruch“ erlebt; und schon sein Vater und sein Onkel waren seit Beginn der fünfziger Jahre Kolonisten im Grunewald. Wie es damals zu dem merkwürdigen Vertragspassus kam, verliert sich für den Kolonie-Chef trotzdem im Dunkel der Nachkriegsgeschichte. Eine Flak-Stellung soll die Fläche während des Krieges beherbergt haben, andere sprechen von einem Munitionslager. 1947 wurde das Gelände dann als „Grabeland“ für kinderreiche Familien freigegeben. Sie durften hier Gemüse anbauen - es „herrschte ja Hungersnot“. Als dann 1953 der Pachtvertrag abgeschlossen wurde, habe man sich vielleicht gedacht, acht Jahre nach Öffnung der Grenzen sei die Hungersnot einigermaßen überwunden.

Tatsächlich kam alles ganz anders: Die Grenzen öffneten sich erst, als von Hungersnot keine Rede mehr sein konnte. Heute fahren manche Kolonisten im BMW und im Jaguar vor. Wohlgebaute Wochenendhäuschen sind auf den Parzellen emporgewachsen, die mit je 250 Quadratmetern auch noch überdurchschnittlich viel Platz bieten. Am Hauptdurchgangsweg haben sich die Grunewald-Kolonisten ein massives Vereinsheim errichtet.

Hier sitzt nun Jeschke und dreht und wendet den Vertrag. Das geknickte und zerknitterte Blatt Papier hat er bisher „gehütet wie ein Juwel“. Die Wiedervereinigung, meint der Gärtner, die war in den letzten drei Jahrzehnten schließlich ein reines „Hirngespinst“. Überall in der Stadt seien zahllose Kolonien „verschwunden“, um für Industrie und Wohnungsbau Platz zu machen, erinnert sich Jeschke. Doch seine Kolonisten mitten im Wald konnten sich auf ihren zwölf Hektar sicher fühlen wie in Abrahams Schoß. Deshalb wollten sie bisher auch, bekennt der Kleingärtner, „wenig über diesen Vertrag verlauten lassen“.

Dem Forstamt nämlich ist die rings vom Grunewald umgebene Siedlung eigentlich ein Dorn im Auge. Den Fremdkörper im Forst würde das Amt - wie Revierförster Strüwe bestätigt „auf jeden Fall“ gerne wieder dem Wald einverleiben. Schon vor zwei Jahren legten die Senatsförster einen zeitgemäßeren Vertragsentwurf vor, der es erlaubt hätte, den Gärtnern schon zum 31.12.1992 zu kündigen. Die Kleingärtner haben das natürlich nie unterschrieben. Schließlich nenne man die wohl „schönste Kolonie Berlins“ sein eigen, argumentiert Jeschke, verbessert sich aber sogleich: „Das wollen wir ja nicht hervorheben.“

Über die deutsche Einheit und ihre Folgen haben sich die zwei Gärtner, die nebenan zusammen eine Dose Bier leeren, gerade erst ihre Gedanken gemacht. Acht Jahre ist der eine nun auf seiner Scholle, 60.000 Mark hat er investiert. Die Acht-Jahre-Frist, die nach der Wiedervereinigung bleibt, findet der Gärtner deshalb beruhigend: Nach insgesamt 16 Jahren sind die Investitionen nämlich abgeschrieben. Anders der Nachbar: Er will „um jeden Zentimeter kämpfen“. Stolz zeigt er seine zwei Komposttonnen vor: „Riechen Sie mal. Das ist so gut wie Waldboden.“ Still ruht sein neuer Froschteich; drei Goldfische schwimmen hier und ein Stichlingspärchen hat sich am Grund des Gewässers ein Nest gebaut.

Nein, große Diskussionen und Unruhe seien im Kolonistenverein noch nicht aufgetreten, behauptet Jeschke. Nur „ganz vereinzelt“ hat der Vereinsvorstand „Anfragen“ von Mitgliedern registriert. Natürlich und „auf jeden Fall“ ist auch Jeschke für die Wiedervereinigung. Zur „Panik“, das wiederholt er, gebe es trotzdem keinen Anlaß: „Noch sind wir schließlich nicht wiedervereinigt.“

hmt