Monstrum und Gentleman

■ Wie aus dem sexuell frustriertem Dr. Jekyll der enthemmte Mr. Hyde wurde... / Roubon Mamoulians Filmklassiker heute um 21 Uhr im N3

Die Spaltung eines Individuums in eine honorige und eine horrible Persönlichkeit, vor allem das in der Tiefe des Unbewußten lauernde, per Droge oder anderer Auslöser plötzlich abrufbare und unter Umständen unkontrolliert wirkende Böse, gehört zu den in Schreckensmärchen und Legenden immer wieder verarbeiteten Urmythen der Menschheit, die ihrerseits naturgemäß die Autoren von Schaurromannen faszinieren mußten. E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe und Oscar Wilde entwarfen Variationen des Themas. Am bekanntesten aber wurde Robert Louis Stevensons Roman The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde, mit dem der schottische Autor 1885 die späterhin meistverfilmte literarische Vorlage aller Zeiten verfaßte. So unterschiedliche Regisseure wie F.W. Murnau, Robert Wiene, Victor Fleming, Terence Fisher, Jerry Lewis, Edgar G. Ulmer; Jean Renoir und andere befaßten sich mit dem Sujet; Schauspielerpersönlichkeiten wie John Barrymore, Conradt Veidt, Fritz Kortner, Specer Tracy, Stan laurel, Lou Costello, Jean-Louis Barrault, Christopher Lee und Oliver Reed waren die Ausführenden in ihren Inszenierungen.

Besondere Bedeutung in der langen Reihe der Stevenson -Bearbeitungen kommt Rouben Mamoulians Version aus dem Jahr 1931 zu, denn sie blieb lange Zeit die einzige, die „wirklich die unterschwellige Sexualität an Stevensons Story auslotete“ (Tom Milne). Rouben Mamoulian war alles andere als ein Horrorfilmspezialist. Der 1898 im russische Tiflis geborene und in Moskau und Londen ausgebildete Theaterregisseur gelangte mehr durch Zufall, nämlich durch seine Arbeit für die „American Opera Co.“ in die USA. Vor Dr. Jekyll and Mr. Hyde hatte er sich als Filmregisseur mit den Genres Musical (Applause, 1929) und Gangsterfilm (City Streets, 1931; nach einer Vorlage von D. Hammett) befaßt. Mamoulian verfügte über einen erkennbar eigenständigen Inszenierungsstil und war ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Um seine künstlerischen Vorstellungen durch- und umzusetzen, riskierte der eigensinnige Künstler auch schon mal Querelen mit den Studiobossen - ein nicht alltäglicher Vorgang im streng arbeitsteiligen, hierarchischen Studiosystem des Jahre 1931, in dem ein Regisseur schneller gefeuert als angeheuert war. Mamoulians Produzenten bei der Paramount wollten die Titelrolle mit dem Schauspieler Irving Pichel besetzt sehen, der gerade mit Murder by the Clock erfolgreich gewesen und dem Publikum als zwielichtige Filmfigur bekannt war. Mamoulians Antwort lautete: „Ich will jemanden, der Jekyll spielen kann; Pichel könnte allenfalls Hyde verkörpern.“ Sein Favorit war der junge Frederic March, bis dahin spezialisiert auf romantische Komödien. Nach einigem Hin und Her setzte sich Mamoulian durch, March erhielt die Rolle - und für seine Leistung 1932 den Oscar (den er sich allerdings mit Wallace Beery teilen mußte).

In Mamoulians Verfilmung des Drehbuches von Samuel Hoffenstein und Percy Heath ist Dr. Jekyll ein respektabler Arzt kurz vor der Eheschließung. Der Vater der Braut läßt sich allerdings Zeit mit der Zustimmung zur Hochzeit, und so treibt die - auch sexuelle - Frustration den armen Doktor in die zweifelhafteren Etablissements des Londoner Nachtlebens. Beinahe erliegt er den Lockungen der Prostituierten Ivy, doch sein wohlmeinender Freund Dr. Lanyon erhebt mahnend seine Stimme und geleitet den verhinderten Sünder zurück auf den Pfad der Tugend, der ihn direktemang ins heimische Laboratorium führt. Dieses Erlebnis nämlich macht Jekyll den Widerspruch zwischen seinen unausgelebten erotischen Wünschen und der puritanischen Fassade seines bürgerlichen Daseins bewußt. Er besinnt sich auf frühere Experimente mit einer bewußtseinsverändernden Droge, die, wir ahnen es, aus ihm den Mr. Hyde macht, in Gestalt dessen er all das ausleben kann, was sich für den englischen Gentleman ansonsten nicht schickt. Die wie animalische, hemmungslose Vorgehensweise des auf chemischem Wege separierten anderen Ichs erschreckt ihn aber dann doch, allein die Droge macht sich quasi selbstständig, und Jekyll kann die „ungeheuerliche“ Verwandlung nicht mehr kontrollieren. Als Hyde wird er zum Mörder und wendet sich niederträchtigerweise sogar gegen seine Verlobte und deren Vater.

So deutlich hatte die Verlockungen der Unmoral noch kein Regisseur zu zeigen gewagt, und die britischen Zensoren reagierten entsprechend: Die meisten der in Soho spielenden Szenen blieben dem Publikum auf der Insel „erspart“. Zur für damalige Verhältnisse radikalen Aussage gesellten sich technische Innovationen wie der exzessive Einsatz der subjektiven Kamera, der die ZuschauerInnen mit Jekylls/Hydes Augen blicken ließ. Erstmals in der Filmgeschichte war ein Schwenk um 360 Grad zu sehen, eine Aufgabe, die Kameramann Karl Struss unter beinahe abenteuerlichen Umständen ausführen mußte, die aber Jekylls Schwindelgefühl während der Verwandlung wirkunsgvoll visualisierte. Auch die Verwendung eines überlaut eingespielten Herzschlags geht auf Mamoulian zurück. Der Regisseur zeichnete selbst seinen eigenen Puls auf, während er die Treppe hinauflief, um das Geräusch des klopfenden Herzens zu verstärken. Schließlich beeindruckt noch heute Frederic Marchs einzigartige Maske, deren Beschaffenheit lange Zeit ein gut gehütetes Geheimnis bliebt. Mamoulian wollte die Szene, in der aus Jekyll der einem Neanderthaler gleichende Hyde wird, ohne Unterbrechung filmen. So kreierte Wally Westmore ein Verfahren, das die gleichzeitige Verwendung mehrerer Masken ermöglichte. Sechs Wochen dauerten die Arbeiten an diesen Szenen, täglich mußte Frederic March um sechs Uhr in der Maskenbildnerei erscheinen und bekam vier Stunden lang eine Make-up-Schicht nach der anderen aufgepappt, jede in Farbe und Form leicht modifziert. Für eine spzielle Art von Licht waren die einzelnen Schichten transparent, so daß sie bei Verwendung entsprechender Filter für die Kamera sichtbar wurden. Durch Entfernung eines Filters veränderte sich Marchs Gesicht jeweils um eine Nuance, bis er schließlich „ungefiltert“ als zotteliger, zähnefletschender Mr. Hyde neue Untaten in Angriff nehmen konnte, eine Sequenz, die ihre Wirkung beim Publikum nicht verfehlte und - neben anderen kamera- und tricktechnischen Errungenschaften - nachfolgende Generationen von Special-Effects-Fachleuten und -Regisseuren nachhaltig beeinflußte.

Harald Keller