Erst Stasi dann Atomenergie

■ In Stendal fand am Sonntag die erste Anti-AKW-Demo in der DDR statt.

„Wer die Stasi schafft, schafft auch die Kernkraftwerke“. Mit dieser telegrafisch übermittelten Losung eröffnete Sebastian Pflugbeil, Minister des Neuen Forums ohne Geschäftsbereich, am Sonntag die erste Kundgebung gegen Kernenergie auf dem Territiorium der DDR. 5.000 AtomkraftgegnerInnen aus Ost und West waren dem Demo-Aufruf „Radioaktivität kennt keine Grenzen“ gefolgt. Veranstaltet wurde die Aktion von der Grünen Partei Stendal und Atomgegnerinnen des örtlichen Neuen Forums. 15 Kilometer nordöstlich der Stadt Stendal wird das bisher größte Kernkraftwerk Mitteleuropas mit einer Leistungskapazität von insgesamt 4.000 Megawatt gebaut.

Da ließen die Werktätigen erst einmal Hammer und Sichel fallen, als der transparentbewehrte Zug den Kundgebungsplatz unmittelbar vor dem Haupteingang des AKWs erreichte. Viele nutz

ten die Gelegenheit für Zaungespräche, aus DemonstrantInnen wurden Solar- und Windradexperten, AKW-Arbeiter entpuppten sich als ahnungslose Vollstrecker einer lange geheimgehaltenen Energiepolitik.

„Wir bauen hier die Duschen und so, was da hinten passiert, da haben wir nichts mit zu tun“, erläutert ein Werktätiger seine Arbeit im AKW. „Da hinten“ wird am ersten Reaktorblock gebaut und ist ungefähr 200 Meter weit entfernt. Das Atomenergie „schädlich“ sei, davon habe er gehört, er glaube aber, daß die Baustelle sowieso nie fertiggestellt wird.

So viel Blindheit ist selten, andere sind kritischer. Die häufigste Argumentationslinie bei den Atombefürwortern ist die der mangelnden Energiealternativen. Kernkraft sei zwar nicht sicher, aber notwendig. Der Vopo, der kopfschüttelnd mit ansehen muß, wie die tristgrauen Beton

wände der volkseigenen Baustelle mit Sprühlack verziert werden, glaubt nicht ans Sparen und nicht an die Kraft der Sonne. „In ein paar Jahren ist die Kohle alle, und dann?“ fragt er. Fortschritt - darin glichen sich offenbar die Bildungssysteme dort wie hier - bedeutet immer auch größer, technischer, risikofreudiger.

Während sich die meisten DemonstrantInnen auf dem Kundgebungsplatz sammeln, fällt in 300 Metern Entfernung der Zaun aus einfachem Wickeldraht, der ebenso verrostet ist wie die Leitungen, die unter freiem Himmel auf ihren Baueinsatz warten. Die verrosteten Teile werden mit viel Liebe und Akribie verziert, die DemonstrantInnen dringen etwa 50 Meter auf das Baustellengelände ein. Nach kurzen Diskussionen ziehen sich die BaustellenverziererInnen wieder zurück.

Die Stendal-Demo war der zweite Teil einer breit angelegten Aktion, die im Februar in Gorle

ben mit der Bauplatzbesetzung eplanten Pilotkonditionie rungsanlage begonnen hatte. Durch die gemeinsame Aktion „weit weg vom Taumel der nationalen Besoffenheit“ (Matthias Stütz, Grüne Partei Stendal) sollten Verbindungen zwischen den beiden Anti-AKW Bewegungen hergestellt werden.

Friedlich ging die Kundgebung zu Ende. Die Stendaler VeranstalterInnen hatten grüne Bänder an die DemonstrantInnen verteilt, die Bändels sollten als grüne Fahnen der Hoffnung am Zaun wehen. Sechs RednerInnen, darunter Jürgen Hartmann vom Neuen Forum Magdeburg, Matthias Stütz von den Grünen Stendal, der niedersächsische Grüne Hannes Kempmann und der Bremer Physiker Jens Scheer, absolvierten ein 60-minütiges Redemarathon. Unter der Losung „Wir kommen wieder, sooft es nötig ist“ wurde die Aktion beendet.

ma