Buchstäblich erschöpft

Leipzig, Sonntag, Messeeröffnung. Der geplante Fototermin mit Fiedler und Rakowsky hat in Berlin nicht geklappt. Also setze ich mich in den Wagen und fahre nach Leipzig. Außerdem möchte ich den beiden gratulieren. Zu ihrer... Ja wozu eigentlich - ihrer Firmengründung, zur Manifestation ihres unternehmerischen Willens?

Nun ja, wirklich großartig, wenn man die DDR nur ein wenig kennt. Diskurs hat seine westlichen Partner einem Fachpublikum jenseits der Messehektik näherbringen wollen. Also brachte man es fertig, eine doppelgeschossige Wohnung in der Nähe der Ausstellungshallen zu mieten, die Räume zu renovieren, und ... zehn Tage vor Messebeginn kündigt der Vermieter den Vertrag: Zweckentfremdung als Gewerberäume und der Hinweis, daß ein westdeutsches Unternehmen den doppelten Preis zahlt.

Doch statt in einer kleineren Hütte Unterschlupf zu suchen, verhandelt diskurs mit den Repräsentanten Gottes. Und so öffne ich also dieses große Kirchenportal und stehe im Umbruch der Zeit. Unter arkadisierenden Decken: Verlagsplakate, Bücherregale, Instant-Imbusschraubentische mit Prospekten obendrauf und Leichtmetallklappstühlen drumherum, auf denen fachpublikumsbewußtes Raunen zelebriert wird. Sehr viele Bücher sind auch zu sehen; showsicher die West-Produktionen, während die der Ostberliner Verlagsneugründungen Linksdruck und UVA nur in Form von Programmen anwesend sind. Und ein wirklich gutaussehender junger Mann mit sorgfältig gebundenem Haar erkundigt sich nach meinem Anliegen.

„Ich möchte Herrn Rakowsky und Herrn Fiedler knipsen.“ „Einen kleinen Moment, sie sind gerade im Gespräch.“ Ich schaue mich um und entdecke wieder nur Menschen, Bücherregale etc. s.o. Vom Vorraum zur Gebetshalle im Hochgeschwindigkeitszug der Zeit: Nachdem die Kirche wegen erfolgreich abgeschlossener Freiheits- und Friedensgottesdienste über gewisse räumliche Kapazitäten verfügt, können diese zwecks endgültiger Säkularisierung dem Kapital zur Verfügung gestellt werden. 200 Jahre gebündelt in vier Monaten. Wer sagt, die DDR sei träge?

Und dann Rakowsky. Ich hatte ihn, zukunftslustvoll vibrierend, zuletzt vor zwei Wochen gesehen. Einer, der auch in größeren Menschengruppen sofort herauszuerkennen war. Jetzt muß er mich erkennen. In der Zwischenzeit hat er wohl zehn Pfund Gewicht und ein halbes Leben in den Kapitalismus eingebracht. Blaß und nervös spricht er in erschöpften Halbsätzen, während Fiedler, äußerlich wie nicht verändert, im Hintergrund Funktionen erfüllt.

Eine Frau vom österreichischen Fernsehen kommt dazu, mit Kameramann und Tontechniker. Ich blitze ein wenig meine Fotos hinein. Zwecks Aufregungsatmo in kulturinteressierten Almhütten. Der Kameramann ist sauer. Er hat zu wenig Licht gegen den Blitz. Bei meinem fluchtartigen Abschied sagt Rakowsky, daß er sich alles, wirklich alles ganz anders vorgestellt hat.

PB