Standbild: Therapiestunde

■ Schwer verformt

(Schwer verformt, 11.3., 21.45 Uhr) „Ich könnt‘ so heulen, daß ich so'n Mauerblümchen bin“, schluchzt ein junger Mann ins Mikrophon. Ja, ja, auch sie sei schwer verformt worden, stimmt eine Frau aus dem Publikum zu. Deutliche Anzeichen von „Diktaturschäden“ diagnostiziert die Schriftstellerin Helga Schubert. Ganz so, als hätten die DDR-Bürger 40 Jahre lang unter der Verfolgung salvadorianischer Todesschwadronen gelitten. Das deutsche Fernsehen (West) hat eine neue Aufgabe gefunden. Wenn man den geknechteten Brüdern und Schwestern aus dem Osten schon keine rosige Zukunftsperspektive präsentieren kann, dann bietet man ihnen eben eine kollektive Gesprächstherapie an.

ARD-Chefredakteur Martin Schulze hat DDR-Bürger in den Dresdener Jugendclub „Die Scheune“ geladen, um über ihre seelischen Deformationen zu sprechen. Zur Diskussion stehen die Thesen des Dr. Hans Joachim Maaz, Psychotherapeut aus Halle. Der größte Teil der DDR-Bürger sei durch die Politik der vergangenen 40 Jahre „charakterlich schwer verformt“. Hinter der sozialen Fassade von Wohlanständigkeit analysiert Maaz mörderische Ängste, Haß und tiefe Traurigkeit.

Und so macht man es sich denn neunzig Minuten gemütlich in der großen gruppendynamischen Therapiestunde in der Scheune und erzählt ungehemmt von den ungelebten Emotionen, der verlorenen Liebesfähigkeit und der unbändigen Wut, die nun endlich ausgelebt werden muß. Der Urschrei: „Ich habe mitgemacht, ich bin benutzt worden!“ Man spürt förmlich die Lust der Anwesenden, sich selbst als gequälte Kreaturen zu stilisieren. Paradoxerweise ist es ein Pfarrer, Uwe Holmer, der Leiter der diakonischen Anstalt Lobetal, der dem Oberpsychopathen Honnecker Asyl gewährt hat, der ab und zu die zaghafte Frage stellt, ob man denn tatsächlich immer zum Lügen gezwungen wurde. Für den Großteil der Anwesenden ist das keine Frage. Sie mußten!

Nach anderthalb Stunden Seelenwäsche hat zwar immer noch niemand eine Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen wird, aber man hat sich erleichtert. Alle sind für die Vereinigung, der Pfarrer mit viel Zuversicht, der Psychologe mit Bedacht - er wünscht sich eine gesamtdeutsche Therapie. Nur die DDR-Kabarettistin Gisela Oechelhäuser ist soweit Realistin, daß sie den Psychomist, den jeder so mit sich herumschleppt, systemunabhängig sieht. Und während Moderator Schulze am Ende gefühlvoll heuchelt, er habe doch noch etwas dazugelernt, und die Gäste zum Mitmachen in ihren Selbsthilfekreisen aufrufen, wird in Leibzig Realpolitik geschmiedet. Krupp und anderes westdeutsches Großkapital tut sich auf der Messe um. Mit einem Volk von seelisch Verkrümmten werden die Kapitalisten lässig fertig.

utho