Verfassung-betr.: "Grundgesetz-Chauvinismus oder neue gesamtdeutsche Verfassung?", taz vom 3.3.90

betr.: „Grundgesetz-Chauvinismus oder neue gesamtdeutsche Verfassung?“, taz vom 3.3.90

1. Es gibt nicht nur zwei Wege zur deutschen Einheit. Das Grundgesetz gewährt einzig in Artikel 23 vereinigungswilligen deutschen Gebieten, von sich aus dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Andere Lösungen, die von den Einigkeit suchenden Gebieten und der Bundesrepublik geteilt werden, sind ebenfalls möglich.

Der Artikel 146 Grundgesetz drückt lediglich die Selbstverständlichkeit aus, daß das Grundgesetz nur bis zu dem Tage gilt, bis eine neue Verfassung in Kraft tritt. Dies war auch die Absicht der Mitglieder im zuständigen Organisationsausschuß des Parlamentarischen Rates. So erwog der FDP-Abgeordnete Dehler, den Artikel zu streichen, da dieser nur die „zeitliche Bedingtheit des Grundgesetzes“ ausdrücke, welche schon in der Präambel zum Ausdruck kommt. Sein Kollege Katz von der SPD gestand ein, daß der Artikel „keinerlei konstitutive Wirkung“ entfalte, wollte ihn jedoch beibehalten, da er „eine sehr schöne Deklaration“ sei. (OrgA 27.Sitz., S.89)

Wie „die Einheit und Freiheit Deutschlands“ zu vollenden sei, ist verfassungsrechtlich offen. Auf der konstitutionellen Ebene sind freilich nur folgende Alternativen denkbar: Beibehaltung des Grundgesetzes, Änderung des Grundgesetzes oder neue Verfassung.

Der Parlamentarische Rat selber neigte wohl zu einer Stufenlösung: „Das Grundgesetz tritt erstens außer Kraft, wenn das ganze deutsche Volk wieder vereinigt ist, zweitens, wenn es in freier Selbstbestimmung, das bedeutet, ohne Hemmungen von Seiten der Besatzungsmächte, etwas Neues beschließt.“ (Katz, OrgA 16.Sitz., S.16) Also erst Beitritt und dann eine neue Verfassung. Diese Möglichkeit überzeugt nicht nur konstruktiv, sondern berücksichtigt zudem den Umstand, daß die damaligen „Ostzonenländer“ nach und nach beitreten konnten und, daß die Bedingung der freien Selbstbestimmung nicht gleichzeitig mit der territorialen Zusammenlegung gewährleistet sein muß.

2. Abgesehen von der verfassungsrechtlichen Dimension ist politisch zu fragen: Wollen wir eine neue Verfassung? Diese Frage verschmilzt sogleich mit der Taxierung der Erfolgschancen, eigene politische Vorstellungen durchsetzen zu können. Wie hoch die Chancen in einer „wiedervereinigten“ Politiklandschaft sind, kann jedeR sich ausrechnen.

3. Die Hoffnung von Ulrich Preuß, durch eine demokratische Selbstkonstitution „das Primat der Nation vor der Verfassung“ auflösen zu können, läuft leer. Die Ereignisse seit November haben faktisch „die nationale Einheit gefühlsmäßig, logisch und zeitlich vor die Verfassungsfrage“ gesetzt. Erst das Nationalgefühl gebar den Wunsch nach konstitutioneller Einheit. Dies ist auch durch geschickte Nutzung des verfassungsrechtlichen Instrumentariums nicht einholbar.

Harald R.Kuhne, Hannover

(...) Diese zwei Seiten Tagesthemen sind seit langem das Qualifizierteste, was ich in der taz gelesen habe. Nicht wegen der keineswegs einfach zu verpackenden Sprache manche Sätze mußte ich durchaus zweimal lesen, um ihr gedankliches Gewicht voll zu begreifen; aber das ist gut so, angesichts eines zunehmend abgeschliffenen 'Spiegel' -Plätschertons, der auch in den taz-Spalten Platz zu greifen droht -, sondern wegen der souverän geführten Argumentationslinie, die erstmalig die Chance bietet, aus dem miserablen Trauer- und Betroffenheitsmief rauszukommen und mit politisch vorwärtsweisenden Argumenten in die Offensive zu gehen.

Was die „Linke“ in der BRD in der deutschlandpolitischen Debatte bisher aufzubieten hatte, war doch im wesentlichen nichts als eine Aufeinanderfolge von Klage- und Anklageliedern. Außer dem tapferen, aber zugleich törichten bloßen Beharren auf Zweistaatlichkeit, ist mir da noch nichts Substantielles unter die Finger gekommen. In dem Artikel von Ulrich Preuß hingegen wird zwar im Prinzip auch von wünschbarer, staatlich abgesicherter Souveränität der DDR-Bevölkerung ausgegangen, aber doch nicht einfach dabei stehengeblieben. Die Alternative stellt sich eben nur noch über das Wie, nicht über das Ob.

Und die Perspektive, eine gesamtdeutsche Debatte über einen ökologisch verfaßten, abgerüsteten, politischen, sozialen und ökonomischen Menschen-Grundrechten sowie einer auf Nord -Süd-Ausgleich zielenden Außenpolitik verpflichteten Bund deutscher Länder loszutreten, scheint mir äußerst attraktiv und Phantasien mobilisierend. (...)

Ulrich Mercker, Bonn