Gesamtschule sieht sich im Aufwind

■ Wenn ihre Lobby recht hat, dann wird auf lange Sicht die Gesamtschule siegen und nicht ihre einsatzfreudigen, die Medien überschüttenden Gegner

Die Zahl der Gesamtschulen nimmt nach einer Erhebung der gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) in den SPD -geführten Bundesländern weiter zu. GGG-Vorsitzende Anne Ratzki sprach im Pressedienst ihrer Organisation jetzt von einem „bundesweiten Gesamtschulboom“ und einer gleichzeitigen „Entideologisierung“ der Gesamtschuldebatte.

Den größten Zuwachs an Gesamtschulen und auch ein anhaltend starkes Interesse der Eltern meldet nach der GGG-Übersicht Nordrhein-Westfalen, das während des Kommunalwahlkampfes im vergangenen Jahr Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen über die Gesamtschulfrage war. Obwohl allein im vergangenen Jahr 13 neue Gesamtschulen eingerichtet wurden, habe man 3.000 Eltern vertrösten müssen, die für ihr Kind einen Gesamtschulplatz wünschten. Im Laufe des Jahres 1990 werde die Zahl der Gesamtschulen voraussichtlich von derzeit 132 auf rund 150 steigen, schreibt die GGG.

Entdeckt wurde die Gesamtschule mittlerweile auch von CDU -Gemeinderäten als eine Möglichkeit, Schule und Schüler am Ort zu halten. Überregionales Aufsehen hatte 1987 die Gemeinde Saerbeck im Münsterland erregt, als sie mit absoluter CDU-Mehrheit den Bau einer Gesamtschule beschloß. Zuvor waren zwei Drittel eines Grundschuljahrgangs in auswärtige weiterführende Schulen abgewandert. Nach dem Bau der Gesamtschule kehrten die Schüler zurück, und zudem kamen Kinder aus umliegenden Dörfern.

In Schleswig-Holstein, wo die neue SPD-Landesregierung die rechtlichen Voraussetzungen zur Gründung von Gesamtschulen geschaffen hat, zeige sich ein erheblicher Nachholbedarf, schreibt die GGG. So hätten die Anmeldungen für die drei 1989 neu gegründeten Gesamtschulen die Zahl der vorhandenen Plätze um ein Drittel überstiegen. Ende 1989 gab es im nördlichsten Bundesland sieben Gesamtschulen und für 1990 lagen neun Anträge vor. Landesweit gebe es 30 Elterninitiativen, die sich für die Gründung von Gesamtschulen einsetzen. Nach Aussagen der schleswig -holsteinischen Kulturministerin Eva Rühmkorf (SPD) hat sich die Diskussion in jüngster Zeit versachlicht und zum neuen Schulgesetz solle die Gesamtschule gleichberechtigt als Regelschule neben dem dreigliedrigen Schulsystem verankert werden. Die CDU meldete dagegen wiederholt starke Bedenken an.

Eine Bevorzugung der Gesamtschulen auf Kosten der Realschulen hat der Verband Deutscher Realschullehrer der schleswig-holsteinischen Landesregierung vorgeworfen. Der Verband kritisierte vor allem Pläne, den Realschulen 250 Planstellen zu entziehen. In Hessen wehrten sich dagegen im Herbst die Gesamtschullehrer gegen eine von Kulturminister Christian Wagner (CDU) geplante bis zu 80prozentige Kürzung ihrer Entlastungsstunden. Die Arbeitsbedingungen an den Förderstufen der Gesamtschulen würden dadurch drastisch verschlechtert, warnte die GEW.

Neue Gesamtschulinitiativen werden auch aus Hamburg gemeldet, wo es bereits 126 Gesamtschulen gibt. Nach dem erfolgreichen Start der Gesamtschule in Eppendorf seien Blankenese und Poppenbüttel als neue Standorte ins Anmeldeverzeichnis für 1990 aufgenommen worden. „Ideologische Grabenkämpfe haben inzwischen auch in Hamburg einem öffentlichen Interesse an einer pädagogischen Schule Platz gemacht“, schreibt dazu der GGG-Bundesvorstand.

Im jetzt CDU-regierten Hessen, das 74 vor allem aus SPD -Zeiten stammende Gesamtschulen hat, bahne sich ebenfalls eine neue Entwicklung an. „Additive Gesamtschulen, in denen bisher getrennte Zweige für Hauptschule, Realschule und Gymnasium existierten, beginnen sich zu integrieren.“ Eschwege, Wiesbaden und Frankfurt bereiten die Integration vor. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich nach Angaben der GGG in den kooperativen Schulzentren in Bremen und Schleswig -Holstein ab.

In Berlin wiederum will man die durch Asbestbelastung notwendig gewordene Sanierung von 17 Gesamtschulen nutzen, um gleichzeitig pädagogische und organisatorische Probleme der Schulen zu lösen. Die Schulen sollen überschaubar werden. Kern des Mitte Dezember von der Senatsverwaltung vorgestellten Konzepts ist ein sogenannter Jahrgangsverbund, der in den nach wie vor großen Schulen kleine und besser überschaubare „Kommunikations- und Kooperationseinheiten“ schaffen soll. Zu dem Konzept gehören auch der gemeinsame Unterricht mit behinderten Kindern und der Kontakt zu Nachbarschaftsschulen. Die Kosten der baulichen Sanierung wurden mit 1,7 Milliarden Mark angegeben.

Um die Lösung der Probleme von „Mammutschulen“, in denen sich die Schüler nicht zurechtfinden und in denen sie keine sozialen Kontakte knüpfen können, haben sich in den vergangenen Jahren viele Lehrer bemüht. So wurde etwa an der Gesamtschule Köln-Holweide ein „Team-Kleingruppen-Modell“ entwickelt, bei dem die Beziehungen zwischen Schülergruppen und Lehrerteams über längere Zeit hin stabil gehalten werden. Das Modell habe inzwischen auch in den USA Interesse gefunden, wird aus Köln berichtet.

Die Lehrerausbildung habe mit der Entwicklung der Gesamtschulen allerdings nicht Schritt gehalten. Hierauf verwiesen Gesamtschulexperten der GGG und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bei der Vorstellung der ersten länderübergreifenden Bestandsaufnahme zum Thema „Lehrerfortbildung für die Gesamtschule“. Bis heute gebe es in keinem Bundesland eine Ausbildung für den Unterricht an der Gesamtschule, obwohl in der Bundesrepublik mittlerweile mehr als 400 Gesamtschulen mit über 30.000 Lehrern existieren. In der genannten Fortbildungsschrift werden die bisherigen Versuche einer gesamtschulspezifischen Lehrerfortbildung vorgestellt, die auch gezeigt hätten, daß Überlastung der Lehrer das Interesse an der Fortbildung schrumpfen lasse. Die Experten fordern deshalb fünf Prozent Lehrerstundendeputat für Fortbildung in allen Schulen und ein Institut für Lehrerfortbildung auf Bundesebene.

Karin Adelmann (dpa)