„Für eine Auflösung der NVA, solange es die DDR noch gibt“

■ Wolfgang Schwarz von der DDR-Studiengruppe „Entmilitarisierung der Sicherheit“ (SES) über zukünftige Strukturen europäischer Sicherheit „Neutralität ist anachronistisch“ / Ganz Europa brauche eine durchgreifende Entmilitarisierung / Für eine Präsenz der Alliierten hüben wie drüben

taz: Herr Schwarz, die sicherheitspolitische Debatte in der DDR ist zur Zeit etwas unübersichtlich. Ministerpräsident Modrow hält offiziell noch an seinem Neutralitätsvorschlag fest, Verteidigungsminister Hoffmann möchte ein integriertes Bundesheer, andere sprechen von einer Berufsarmee als Alternative zur jetzigen NVA. Was halten Sie von einer deutschen Neutralität, und welche Chancen räumen Sie dieser Vorstellung ein?

Wolfgang Schwarz: Gesamtdeutschland zu neutralisieren, also einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat militärisch und politisch zu neutralisieren und aus den bestehenden Bündnissen herauszulösen, halte ich unter zwei Gesichtspunkten für einen denkbar schlechten Ansatz. Erstens sollten wir und auch die anderen Europäer aus der Geschichte gelernt haben, daß man die Deutschen in der Mitte Europas nicht alleine lassen kann - es hat seit 1864 einige Kriege gegeben, die auch diesem Umstand geschuldet waren.

Generell würde ich deshalb sagen, die Deutschen sollten mit allen Nachbarn, gegen die sie in diesem Jahrhundert Krieg geführt haben, sicherheitspolitisch verbunden bleiben. Deutsche und Polen und Deutsche und Franzosen gehören in ein gemeinsames Bündnissystem.

Zweitens: die Vorstellung von Neutralität entspricht nicht der europäischen Entwicklung, wie sie mit der Schlußakte von Helsinki eingeleitet und in dem KSZE-Prozeß weitergeführt wurde. Der KSZE-Prozeß läuft doch auf ein zunehmendes Zusammenwachsen, perspektivisch womöglich auf eine gesamteuropäische Integration hin. Vor diesem Hintergrund ist Neutralität ein anachronistisches Konzept, das nicht in die Zukunft paßt.

Für die Sicherheitspolitik bedeutet das, wir brauchen blockübergreifende und als Zielvorstellung blockintegrierende Strukturen - also eine Art gesamteuropäische Sicherheitsunion, wo die 35 KSZE-Staaten, inclusive USA, Kanada und Sowjetunion, integriert sind und die Blöcke letztlich darin aufgehen könnten.

Warum kann man die Blöcke, zumindestens als Militärbündnisse, nicht gleich auflösen?

Unter anderem, weil die Blöcke mehr Funktionen hatten und haben, als auf den ersten Blick deutlich wird. Ein Beispiel: Solange der Ägäis-Konflikt schwelt, wäre es schlecht, die Nato aufzulösen. Denn letztlich geht es wohl auf die Nato zurück, daß Griechenland und die Türkei in den letzten 30 Jahren - von Zypern einmal abgesehen - keinen heißen Krieg geführt haben.

Für den Warschauer Vertrag sehe ich in der Zukunft ähnliche Konfliktfelder, zum Beispiel aufbrechende Nationalismen oder Grenzfragen, die es ja zwischen einigen Warschauer -Vertragsstaaten gibt und die man in einem reformierten Bündnis sicher besser managen kann, als wenn man die einzelnen Staaten sich selbst überläßt.

Das Problem ist aber doch die Phase bis zu einer möglichen bündnisintegrierten Europäischen Sicherheitsunion. So anachronistisch die Neutralität sein mag, alle anderen kursierenden Vorschläge, angefangen vom sogenannten Genscher -Plan bis hin zur Idee des noch amtierenden Verteidigungsministers der DDR, sind nichts anderes als ein Rückgriff auf den Status quo. Wird dadurch nicht eine vorwärtsweisende Debatte bereits im Keim abgewürgt?

Erst einmal zum Verteidigungsminister der DDR. Ich frage zur Zeit jeden, der den Erhalt der NVA propagiert: Was soll damit sicherheitspolitisch erreicht werden? Was will ich künftig mit Streitkräften der DDR auf dem früheren Territorium der DDR? Abschreckung produzieren gegen potentielle Aggressoren, lautet die Antwort macher NVA -Militärs. Aber wer soll das sein? Diese Frage ist nicht zu beantworten. Warum dann also noch Streitkräfte?

Mit diesem Szenario ist die Bundesregierung sicher einverstanden. Allerdings nur solange, wie es sich ausschließlich um die NVA dreht. Die Forderung nach Auflösung der NVA und der jetzigen DDR als entmilitarisierter Zone wird zumindest von Genscher ja zwischen den Zeilen propagiert.

Ich gehe davon aus, daß angesichts der Entwicklungen im Ost -West-Verhältnis auch weitere Reduzierungen der Bundeswehrstärke bevorstehen.

Darüber hinaus rechnet man in Bonn mit einem weitergehenden Auflösungsprozeß des Warschauer Pakts bei gleichzeitiger Stabilität der Nato. Wie soll aus dieser Ausgangslage eine neue Europäische Sicherheitsordnung entstehen?

Die ganze Debatte krankt natürlich daran, daß es auf beiden Seiten keine konkrete Zielvorstellung dazu gibt, wie ein institutionalisierter sicherheitspolitischer Rahmen des KSZE -Prozesses aussehen könnte. Und die Debatte krankt auch daran, daß die Erkenntnis sich noch nicht durchgesetzt hat, daß Europa im Inneren eine durchgreifende Entmilitarisierung braucht.

Sicherheit mit militärischen Mitteln kann Europa - wenn überhaupt - nur noch nach außen produzieren, wenn man davon ausgeht, daß wir global gesehen keine Insel der Seligen sind. Schon das können die heutigen Bündnisstrukturen nicht leisten. Nach innen sind militärische Strategien für jeden denkbaren Konflikt völlig disfunktional, weil diese Industriegesellschaften gar nicht zu verteidigen sind. Diese Einsicht hat sich aber noch nicht durchgesetzt. Sachlich gesehen müßte man sich für die innere Struktur etwas ganz anderes einfallen lassen. Nur solche Umbruchphasen - wie jetzt eine stattfindet -, die sind für kreatives Denken noch nie besonders hilfreich gewesen, weil jeder fast instinktiv auf das sogenannte Bewährte zurückgreift und versucht, den Bestand zu sichern, bis die Lage wieder etwas ruhiger ist.

Wie könnte denn nun eine Zielvorstellung aussehen? Ist es wünschenswert, ein föderalistisch organisiertes Europa mit einer supranationalen Ebene, die für die Außen-und Verteidigungspolitik zuständig ist, anzustreben? Haben wir in Zukunft eine erheblich verkleinerte, multinationale Armee von Portugal bis Polen?

Ich halte von den Modellen, die die Sowjetunion und die USA ausschließen, nicht sehr viel. Was spricht eigentlich dagegen, daß an einer zukünftigen europäischen Sicherheitspolitik alle 35 KSZE-Staaten beteiligt sind, also auch die UdSSR, die USA und Kanada?

Dagegen spricht, daß die USA und die UdSSR eine Vielzahl von Interessen haben, die mit Europa nichts zu tun haben.

Damit lebt die Nato seit 40 Jahren. Das führt zwar immer mal zu Reibungspunkten, hat die Nato aber nie ernstlich tangiert. Dazu kommt, daß die beiden Großmächte ja explizit nicht aus Europa herausgedrängt werden wollen. Man sollte sie beim Wort nehmen und produktiv einbinden.

Was heißt denn dann Einbinden? Weitere langfristige Truppenstationierung?

Einbindung heißt Truppenstationierung und Erhalt der alliierten Präsenz in Deutschland, bis es ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem gibt. Dann kann man über ganz andere Arrangements nachdenken.

Das ist aber doch genau die Frage. Wie sieht ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem letztlich aus? Können Sie sich vorstellen, daß es einen gesamteuropäischen Verteidigungs- und außenpolitischen Ausschuß gibt, in denen beispielsweise über die europäische Streitkräfteplanung gesprochen wird, und in denen die USA und die UdSSR an einem Tisch sitzen?

Für den Einstieg würde die politische Ebene ja genügen. Ein politisches Gremium als Institution der KSZE, wo die Außenminister der beiden Pakte in einer regelmäßigen Form sich abstimmen. Dies müßte zunächst die existierenden Militärpakte überwölben und könnte letztlich zu einer Integration der jetzigen Blöcke führen. Das scheint mir der einzige Weg, die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten befriedigend zu berücksichtigen.

Das KSZE-Treffen soll noch in diesem Jahr stattfinden. Bislang sind von keiner Seite Konzepte vorgelegt worden, die wirklich konkrete Etappen in die von Ihnen angezeigte Richtung aufweisen. Tatsächlich gibt es Befürchtungen, die KSZE könnte zu einer Akklamationsrunde werden, die ungefähr die Verbindlichkeit des Völkerbundes der zwanziger Jahre aufweist. Besteht nicht vielmehr die Gefahr, daß die europäischen Staaten ihre Sicherheit wieder in bilateralen Absprachen suchen?

Wenn das KSZE-Treffen über unverbindliche Absichtserklärungen nicht hinauskommt, werden die bestehenden Bündnissysteme kaum aufgelöst werden. Da wird sich niemand drauf einlassen. Wenn man sich auf keine neuen Strukturen einigen kann, wird es de facto darauf hinauslaufen, daß die Bündniseinbindungen bestehen bleiben.

Was heißt das dann für die deutsch-deutsche Vereinigung?

Unter Umständen, daß elf deutsche Länder künftig in der Nato sind und fünf im Warschauer Vertrag. Zumindestens auf der politischen Ebene.

Und mit welcher militärischen Befehlsstruktur?

Das weiß ich auch nicht. Die Befehlsstruktur auf der westlichen Seite wird bleiben, wie sie ist. Was die DDR angeht, wäre meine Option, die NVA in einem geregelten Prozeß - der, um sozial, wirtschaftlich und ökologisch verträglich zu sein, sicher einige Jahre in Anspruch nehmen würde - abzuschaffen und bis zu einer gesamteuropäischen Lösung eine bestimmte sowjetische Präsenz in der heutigen DDR zu belassen. Die Sowjetunion sollte zum Erhalt der Vier -Mächte-Verantwortung mit einer verringerten Truppenstärke hier bleiben - ebenso wie USA, Frankreich und Großbritannien auf dem Gebiet der BRD. Also Präsenz der Alliierten hüben wie drüben, Abschaffung der NVA, und dann kann man den europäischen Prozeß in Ruhe weiter entwickeln. Eine solche Konstruktion kann erst einmal für eine ganze Zeit Stabilität garantieren.

Was passiert mit den Atomwaffen in Europa?

Wenn ein Streitkräfteniveau in Europa erreicht ist, das gegenseitig als angriffsunfähig akzeptiert wird, würde auch nach der Nato-Definition die Legitimation für hier stationierte Atomwaffen entfallen.

Vor dem Hintergrund aller jetzt angesprochener Probleme: Was kann für den militärischen Bereich Ihrer Meinung nach im positivsten Falle bei der KSZE-Runde herauskommen?

Das hängt auch davon ab, was bei den Zwei-plus-vier -Verhandlungen herauskommt. Das Positivste wäre eine Zwischenlösung, die die grundlegenden Sicherheitsinteressen aller Betroffenen mit abdeckt.

Konkret also Grenzgarantien?

Das heißt Grenzgarantien und darüber hinaus, daß die Deutschen mit den Staaten verbündet bleiben, gegen die sie in der Vergangenheit Krieg geführt haben, und zwar nach Osten wie nach Westen. Dazu gehört die Verständigung auf einen Prozeß, in dem die militärischen Potentiale in Deutschland sehr stark reduziert werden.

Deutsche Truppenreduzierung als Diktat der Siegermächte? Besteht da nicht die Gefahr einer deutsch-nationalistischen Reaktion, die laut „Diskriminierung“ schreit?

Das stimmt, deshalb muß die Reduzierung deutscher Truppen auch in Deutschland entschieden werden. Deshalb bin ich ja auch dafür, eine Auflösung der NVA zu beschließen, solange es die DDR noch gibt. Wir könnten in Deutschland, entsprechende völkerrechtliche Garantien für das Gebiet der DDR vorausgesetzt, damit gut leben. Das gilt für die Bundesrepublik ja genauso, auch wenn das politisch dort überwiegend noch nicht so gesehen wird.

Interview: Jürgen Gottschlich