Ein Weg ohne Umkehr

Litauens Unabhängigkeitserklärung läutet die Auflösung des Sowjetimperiums ein  ■ K O M M E N T A R

Mit dem Entschluß des litauischen Parlaments, die Verfasung von 1938 wieder in Kraft zu setzen, ist ein Weg ohne Rückkehr eingeschlagen worden. Das sowjetische Imperium wird desintegrieren. Wir könnten dieses Ereignis mit kaltem Blick betrachten, würden seine Auswirkungen nicht auf völlig unberechenbare Weise in unser aller Schicksal eingreifen. Wird ein demokratisch erneuertes Rußland zum Kern eines Staatenbundes auf freiwilliger Grundlage werden oder wird ein autoritäres Rußland die Reste seines Imperiums in Europa und Asien mit Waffengewalt verteidigen? Oder sind das falsche Alternativen?

Wir waren bisher gewohnt, die Perestroika in der Traditionslinie der „Westler“ zu sehen, jener Strömung, die Rußland an die Seite der entwickelten Industrienationen Europas führen wollte. In dieser Interpretation wäre der Stalinismus nur ein vorübergehender Rückfall in die „asiatisch„-despotischen Strukturen gewesen, auf denen das Zarenreich sich entwickelt hatte. Stets aber ist dieser Auffassung entgegengehalten worden, das totalitäre Regime habe, einer oberflächlichen Russophilie zum Trotz, gerade auf der Vernichtung des alten Rußland basiert. Die „Rückkehr Rußlands zu sich selbst“ muß heute nicht identisch sein mit dem Triumph des Obskurantismus, einer antizivilisatorischen Grundhaltung. Eine solche Rückkehr würde unweigerlich zum Rückfall, wenn ethnische und religiöse Abgrenzung ein Identitätsgefängnis schaffen würden, dem niemand entfliehen kann. Anstelle des gescheiterten sozialistischen Internationalismus, der das Monstrum „Sowjetmensch“ hervorgebracht hat, würde dann der Kampf um ethnische und religiöse Identitäten treten. Rationale Verfahren der Konfliktbewältigung wären da kaum noch durchsetzbar.

Ob die „Rückkehr Rußlands zu sich selbst“ demokratisches Potential freisetzen und einer aufklärerischen Kritik des kapitalistischen Industrialisierungsmodells den Weg ebnen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sich die Auflösung des sowjetischen Imperiums vollziehen wird. Die baltischen Staaten sind der Präzendenzfall. Werden auf die Unabhängigkeitserklärung Verhandlungen folgen, innerhalb derer die selbstständig gewordenen Staaten zu Teilen eines künftigen Commenwealth werden könnten? Oder wird dem legitimen Schritt Litauens Ausgrenzung und Erpressung seitens der sowjetischen Führung folgen? Die moderate Antwort Gorbatschows auf die Sezession macht eine Verhandlungslösung möglich. Aber die Politik der sowjetischen Führung muß jetzt die Phase des Reagierens hinter sich lassen. Am Besten wäre es, sie stellte von sich aus die Union zur Disposition - und verhandelte dann von gleich zu gleich.

Christian Semler