NS-Akten noch unter Verschluß

Sinti und Roma klagen die bundesdeutschen Behörden an, NS-Akten weiterhin der Öffentlichkeit vorzuenthalten Simon Wiesenthal will, daß DDR-Parteien entsprechende Unterlagen an das Koblenzer Bundesarchiv übergeben  ■  Von Sebastian Reinfeldt

Frankfurt (taz) - Simon Wiesenthal und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordern parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundestages und der Landtage in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, die den Verbleib unterdrückter NS-Akten über den Völkermord an Sinti und Roma aufklären sollen. Sie verlangen ferner von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, daß er über den Aufbewahrungsort der brisanten Unterlagen Auskunft gibt.

„Es ist ein unglaublicher Skandal, daß Behörden und Regierungen nach 1945 behauptet haben, diese Unterlagen seien nicht mehr vorhanden“, erläuterte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates auf einer Pressekonferenz in Frankfurt. In Wahrheit seien sie in der gesamten Bundesrepublik hin- und hergeschoben worden. Außerdem bat Simon Wiesenthal die Parteien in der DDR, sich dafür einzusetzen, daß dort lagerndes Archivmaterial über NS -Verbrecher dem Bundesarchiv in Koblenz überstellt wird. Der „antifaschistische Staat“ ist bei der Verfolgung von NS -Verbrechern bisher „stumm geblieben“, berichtete der Leiter des Wiener Dokumentationszentrums jüdischer Verfolgter des Naziregimes.

Bei den in der Bundesrepublik angeblich „verschwundenen“ Akten handelt es sich um mehrere tausend „Zigeuner -Rasseakten“, Deportations- und Todeslisten sowie um rund 24.000 „Rassegutachten“, die die Nationalsozialisten angelegt hatten. Mit diesen Akten wurde vom Reichssicherheitshauptamt der Nazis der Völkermord an den Sinti und Roma organisiert. Nach Kriegsende sind diese Unterlagen von Polizeibehörden in Bayern und Baden -Württemberg und von dem Anthropologischen Universitätsinstitut in Mainz weiterverwendet worden - „eine erschreckende Kontinuität in der rassistischen Erfassung unserer Minderheit“, kommentierte der Vorsitzende Romani Rose.

Zwei Beispiele: Bei Kriegsende reiste der Ex-SS-Oberführer Paul Werner zu seiner ehemaligen Dienststelle nach Karlsruhe und brachte den Kollegen Akten aus dem Reichssicherheitshauptamt. Werner selbst war später (von 1952 bis 1964) wieder in Amt und Würden. Er arbeitete im Innenministerium in Baden-Württemberg. Sein Ressort war nun das Siedlungswesen. Schon 1960 bestätigte ein Oberkommissar in Karlsruhe dem Frankfurter Staatsanwalt Thiede, daß in der Landespolizeidirektion Karlsruhe „ein sehr großer Aktenbestand sämtlicher Zigeunerpolizeiakten“ vorhanden sei. Und am 1. März 1990 hat die Landesregierung in Stuttgart nach Angaben von Rose behauptet, sie könne nicht mehr prüfen, ob die Papiere noch vorhanden seien.

Das bayerische „Zentralamt für Kriminalidentifizierung und Statistik“, der Vorläufer des Landeskriminalamtes, erhielt 1949 von einer ehemaligen NS-Rassenforscherin umfangreiche Aktenbestände. Das Übergabeverzeichnis dieser Transaktion führt in 13 Punkten entsprechende Unterlagen auf. Vermutlich enthielten die damals in die Polizeiakten einsortierten Papiere auch wesentliche Teile der etwa 24.000 „Rassegutachten“ - von WissenschaftlerInnen erstellte Todesurteile für Sinti und Roma. 1964 bekamen die bayerischen NS-Akten eine neutrale Firmierung; die „Rassegutachten“ wurden an den Leiter des Landauer Gesundheitsamtes als „rassen- und familienkundliches Material“ geschickt. Seitdem gelten die „gutachtlichen Äußerungen“ aus dem ehemaligen „Rassehygienischen Institut“ ebenfalls als verschollen.

Romani Rose bezeichnete das Verhalten bundesdeutscher Behörden als einen „Sumpf von Rassismus“. Simon Wiesenthal wies in seiner Stellungnahme darauf hin, daß bis heute 80 bis 90 Prozent der Verfahren gegen NS-Verbrecher „aus Mangel an Dokumenten“ eingestellt wurden. Es sei sehr wichtig, diese Unterlagen endlich zu sichern und im Bundesarchiv in Koblenz aufzubewahren.