Zerfall des Sowjetimperiums

■ Als mächtiger Präsident der Sowjetunion könnte er den Ausnahmezustand acu in Litauen ausrufen

Als am Sonntag abend die Stimmen ausgezählt waren, löste sich die Spannung der 130 anwesenden Abgeordneten des litauischen Parlaments in einem frenetischen Jubel: Mit 124 Ja-Stimmen und nur sechs Enthaltungen wurde der „unabhängige litauische Staat“ wiederhergestellt. Und als die gelb-grün -rote Nationalflagge Litauens gehißt wurde, kannten die Abgeordneten kein Halten mehr. Die „Litauen, Litauen„-Rufe wollten nicht mehr enden.

Die Spannung, die vorher auf der Versammlung lag, war nicht einmal allein in dem Akt begründet, feierlich zu erklären, daß dem „souveränen Willen des litauischen Volkes“ wieder Geltung verschafft worden sei. Die Unterdrückung durch eine „fremde Macht“ sei nun beendet worden. Auch war sie nicht darin begründet, die Verfassung des unabhängigen Staates von 1938 wieder in Kraft zu setzen, den Namen der „Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ wieder in „Litauische Republik“ zu ändern. Sie lag in dem Wissen um den historischen Moment. Eine lange für die Litauer bedrückende historische Entwicklung ist mit dieser Entscheidung zu Ende gegangen. Nach dem Stalin-Hitler-Pakt von 1939 in das sowjetische Einflußgebiet geraten, in den Jahren 1941 bis 1944 zweimal unter der Dampfwalze direkter Kämpfe zerstört und danach Schauplatz der stalinischen Säuberungen und Deportationen, fühlen sich die Litauer nun wieder in die Völkerfamilie integriert.

Ob die Entscheidung nun in der jetzigen historischen Situation auch wirklich klug war oder nicht, spielte für die Abgeordneten keine Rolle mehr. Die 1940 verlorengegangene Souveränität war wiederhergestellt. Es ging den litauischen Abgeordneten darum, zu zeigen, daß die niemals akzeptierte Okkupation durch eine fremde Macht nun annulliert sei. Und daß der Gründungsakt vom 16.Februar 1918 über die Unabhängigkeit des Landes sowie die Erklärung des Sejm vom 15.Mai 1920, in der die demokratische Republik Litauen begründet wurde, niemals hinfällig gewesen ist. Die Verfassung von 1938 ist nun wieder in Kraft gesetzt und damit die Sowjetverfassung für das „unteilbare Territorium“ des Landes ungültig geworden. In dem von dem neuen Staatspräsidenten Vytautas Landsbergis unterzeichneten Dokument werden die Bürgerrechte für alle, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die die Rechte der nationalen Minderheiten in der neuen Republik garantiert.

Doch auch dieser Akt der „Souveränität“ konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach der Jubelfeier die Verhandlungen um den neuen Status erst beginnen. Bevor die Grenzpflöcke und die Zollhäuschen zu den angrenzenden Republiken der Sowjetunion eingesetzt werden können, sind eine Reihe von Problemen noch zu lösen. Die Forderungen Gorbatschows, die Investitionen der Sowjetunion in der Industrie abzugelten, mögen zwar auch nicht klug sein. Sie zeigen aber, daß die Führung der Sowjetunion dem Beschluß des litauischen Parlaments nicht tatenlos zusehen wird. Auch die Ankündigung, die weit unter den Weltmarktpreisen an Litauen abgegebenen Rohstoffe nun auf Devisenbasis abzurechnen, ist nicht nur ein Querschuß.

Die ökonomische Entflechtung, so die Botschaft aus Moskau, wird in Litauen zu ökonomischen und sozialen Spannungen führen. So ist es auch kein Wunder, wenn einige Abgeordnete nach der historischen Sitzung davon sprachen, daß der Weg zur wirklichen Unabhängigkeit noch „lang und dornig“ sein werde.

Doch auch in der Innenpolitik der Republik Litauen ist mancher Sprengstoff enthalten. Der formulierte Anspruch, „die territoriale Integrität zu wahren“, kollidiert jetzt schon mit den Forderungen Moskaus, das nach Aussagen Gorbatschows das nördlich des ehemaligen Ostpreussens gelegene, 1944 von der Sowjetmacht zu Litauen zugeschlagene Memelland künftig wieder in die Russische Sowjetrepublik reintegrieren will.

Und auch bei den Minderheiten sind Konflikte absehbar. Immerhin leben in der Hauptstadt Vilnius und Umgebung über 400.000 Litauer polnischer Nationalität. Zwar haben die beiden im Obersten Sowjet vertretenen polnischen Abgeordneten sich bei der Abstimmung am Sonntag der Stimme enthalten. Dennoch fordern die Polen ihre Minderheitenrechte ein. Unmut löste z.B. bei den Polen aus, daß nun litauisch zwar die Amtssprache in Litauen ist, die schon 1988 gegenüber dem Russischen durchgesetzt wurde. Doch andererseits wird polnisch in den mehrheitlich von Polen bewohnten Gebieten als Behördensprache nicht als gleichberechtigt anerkannt sein.

Erich Rathfelder