Rußland vollzieht den Rückzug auf sich selbst

„Das Rad der Geschichte“, schreibt Friedrich Engels irgendwo, „rollt über die Trümmer großer Reiche.“ Engels, wie sein bester Freund ein Hasser des Zarismus, hätte das gegenwärtige Auseinanderfallen des sowjetischen Imperiums mit der Distanz des Universalhistorikers registriert - und dem Pathos des Revolutionärs, für den der Sieg des „westlichen“ Sozialismus unausweichlich war.

Marx wäre vorsichtiger hinsichtlich des westlichen Vorbilds gewesen, wie wir seinen Bemerkungen über einen nichtkapitalistischen russischen Entwicklungsweg entnehmen können.

Schon im 19.Jahrhundert war der zaristische Imperialismus in Rußland selbst im Namen der „russischen Idee“ bekämpft worden. Der Zerfall des Sowjetimperiums und der Tod des „homo sovieticus“ bringt jetzt wieder das ideologische Konglomerat hervor, nach dem die Essenz Rußlands in seiner orthodoxen Religiosität begründet sei, in seiner Spiritualität, nicht aber in seiner Machtfülle. Die Katastrophe des alten Rußlands sei der Triumph der westlichen imperialen Idee unter Peter dem Großen gewesen. Im Dienste dieses Imperialismus sei die Kirche staatlichen Zwecken unterjocht und das russische Volk „entnationalisiert“ worden. Rußland müsse, mit Solschenitzyns Worten, „nach Nordosten“ gehen und „sich auf seine Wurzeln zurückbesinnen“.

Die bisher letzte Zuspitzung dieses Postulats stammt von dem Priester Ekonomtsew. Auf der 400-Jahrfeier des „Moskauer Patriarchats“ erklärte er den Begriff des „Reiches“ als unvereinbar mit einem religiös inspirierten Begriff der Nation. Die Renaissance Rußlands innerhalb der UdSSR ist also keineswegs nur mit dem agressiven Nationalismus verbunden, der sich bei den Anhängern des „Patriot“, bei Teilen der Pamyat-Bewegung und bei ihren Verbündeten in der Partei, den Nationalbolschewisten, findet. Der spirituelle Nationalismus, der sich auf die russische Idee beruft, ist defensiv.

Nach den Vorstellungen seiner Anhänger bedeutet „Rußlands Rückzug auf sich selbst“, daß die orthodoxen slawischen Nationen der heutigen Sowjetunion, also Rußland, die Ukraine und Weißrußland, eine neue Föderation eingehen, der sich nicht-orthodoxe Nationen auf freiwilliger Basis anschließen können. Die asiatischen Republiken würde man gerne ziehen lassen, Georgien, Armenien und die baltischen Staaten gerne halten. „Aber niemand“, sagt der Historiker Sergej Stankovitsch, „sollte mit Gewalt bei uns gehalten werden.“ Stanislaw Kujajew von der russischen Kulturzeitschrift 'Nash Sovremnik‘ faßt die Haltung der Kulturnationalisten so zusammen: „Wir bekamen den Marxismus vom Westen, und es war eine Katastrophe. Jetzt wollen wir unseren russischen Weg entwickeln. Die Republiken, die uns jetzt verlassen, werden noch verstehen, daß Rußland ihnen jahrhundertelang alles gegeben hat, seine besten Menschen, seine Reichtümer, seinen Schutz.“

Neue historische

Bestimmung

Vor der Folie dieser Renaissance eines defensiven, wertkonservativen Nationalismus müssen die Debatten gesehen werden, die in jüngster Zeit über einen Staatenbund jenseits der Sowjetunion begonnen haben. Bis vor wenigen Monaten war dieses Thema tabu. Jetzt hat der US-amerikanische Slawist Dunlop der westlichen Öffentlichkeit zwei Aufsätze zugänglich gemacht, die auch in Rußland erschienen sind. In der 'Literaturnaja Rossija‘ vom 26.Januar schreibt der konservative Historiker Eduard Volodin, daß das bisherige Machtzentrum der UdSSR „zu einer Schimäre geworden ist und Rußland, frei von diesem Zentrum, sich selbst eine neue historische Bestimmung suchen muß“. Volodin vertritt die Linie: „Wer gehen will, soll gehen. Die Republiken, die gehen wollen, können allerdings weder auf ökonomische noch militärische Hilfe bzw. Schutz des neuen Staatenbunds hoffen. Sie werden sich auch Gebietsforderungen Rußlands gegenübersehen und finanzielle Rückzahlungen leisten müssen.“

Nach Volodins Ansicht soll sich die Rückkehr Rußlands „zu sich selbst“ auch in der Konzentration der finanziellen Ressourcen, in einem nationalen Entwicklungsprogramm für Rußland niederschlagen. Im Gegensatz zu Volodin sieht der Ökonom Vladimir Kvint in einem im Februar veröffentlichten Artikel bessere Chancen für eine Neubegründung der Union in Grenzen, die ungefähr den heutigen der Sowjetunion entsprechen. Nach Kvin sollte die russische Föderation die erste sein, die aus dem Unionsvertrag aussteigt. Er glaubt, daß die meisten Republiken, die die Union dann verlassen würden, aus wohlverstandenem ökonomischen Eigeninteresse in einer neuen Föderation oder Konföderation einwilligen würden. Kvint insistiert, daß nur dieser Zeitplan - erst Sezession, dann Verhandlungen unter Bedingungen staatlicher Freiheit, dann freiwilliger Zusammenschluß - zu einem rationalen Interessenausgleich führen könne. Volodins und Kvins Artikel sind zum Teil von gegensätzlichen Positionen aus geschrieben, sind aber beide im Kern Rückzugsstrategien. Um Rückzug geht es jetzt tatsächlich. Ob in seiner Folge Rußland sich wieder vom Westen abwenden wird, hängt nicht zuletzt vom Ausmaß der Hilfe ab, die die westlichen Staaten bei einem friedlichen und demokratischen Transformationsprozeß der Sowjetunion leisten werden.

Christian Semler