Ungarn mäkeln am Truppenabzug

Schon 1956 zogen die Sowjettruppen ab, um dann wiederzukommen / Transportprobleme verzögern alles  ■  Aus Budapest Tibor Fenyi

Als angekündigt wurde, daß die sowjetischen Truppen jetzt Ungarn endgültig verlassen werden, gingen die Leute nicht auf die Straße, feierten nicht, vergossen auch keine Freudentränen wie noch 1956, als sie auch schon einmal für kurze Zeit aus Budapest abgezogen wurden. Die Nachricht wurde zur Kenntnis genommen, und Herr Schewarnadse hatte sogar in ungarischen Augen recht, als er erklärte, die Unterzeichnung des Vertrags sei „ein wenig spät gekommen“. Der Abzug des letzten Soldaten wird, den aktuellen Vereinbarungen zufolge, erst am 31. Juli 1991 erfolgen. Vielleicht rührt die Gleichgültigkeit der Ungarn angesichts dieses historischen Ereignisses daher, daß sie jetzt - wie in einem Leitartikel von 'Magyar Hirlap‘ zu lesen - „die peinliche Tatsache“ begreifen, „recht wenig Mitspracherecht in dieser Angelegenheit“ zu haben. „Abgezogen sind die sowjetischen Truppen nicht deshalb, weil das Kabinett und die Öffentlichkeit dies von ihnen gefordert hat, sondern weil sie Lust zum Abzug bekommen haben...“ Die Oppositionsparteien stellen sich zudem die Frage, was geschieht, wenn sich diese oder eine andere Sowjetführung die Sache anders überlegt.

In Begleitung von Außenminister Gyula Horn auch drei Oppositionelle nach Moskau, in Vertretung des Freien Demokraten (SzDSz), des Demokratischen Forums (MDF) und der Jungdemokraten (FIDESZ). Und sie erklärten Herrn Schewardnadse, daß sie nach dem Machtwechsel erneut über Takt und Tempo des Abzugs verhandeln möchten. Dies hörend war der sowjetische Außenminister zunächst überrascht, dann kehrte er den ungarischen Oppositionellen den Rücken und ließ sie allein.

Am Montag wurden trotzdem die ersten 300 Sowjetsoldaten und ihre gepanzerte Fahrzeuge in der Bahnstation Hajmasker in Waggons verfrachtet; Eine Erklärung der Oppositionsorganisation FIDESZ machte jedoch die Ungarn ernsthaft stutzig: mit Berufung auf die Eisenbahner in Nyiregyhaza teilte sie mit, daß dieser Tage sowjetische Soldaten nicht nur das Land verließen, sondern auch neue ins Land gekommen sind. Im wesentlichen erhärtet wurde die Nachricht durch den Sprecher des Verteidigungsministeriums, er erklärte allerdings, daß es in der Hauptsache um Transporteinheiten gehe. Zu gleicher Zeit ließ er aber die Zuschauer des ungarischen Fernsehens aufhorchen, indem er erklärte, im Sommer würden weitere zehntausend russische Soldaten ins Land einmarschieren. Es gebe zwar keinen Anlaß für Panik, denn diese sowjetischen Soldaten würden ebenfalls Fahrer und Transportarbeiter sein.

Doch ist es verständlich, wenn die Magyaren nun gereizt sind: Als 1956 der Abzug der sowjetischen Truppen vereinbart wurde, erklärte der damalige Sowjetbotschafter, Herr Andropow, mit ähnlichen Worten, weshalb die Soldaten der Roten Armee nicht gingen, sondern neue kamen... Heute ist die Lage natürlich eine andere, der Abzug könnte tatsächlich vor sich gehen.

Querschüsse anderer Art kamen vom ungarischen Finanzministerium. Dort wurde erklärt, den russischen Soldaten dürfe man fortan nur bei Barzahlung etwas überlassen. Daß diese Maßnahme nicht unbegründet ist, wird von einem Prominenten der Elektrizitätswerke erhärtet: Die „brüderlichen Truppen“ schulden allein für den Stromverbrauch rund hundert Millionen Forint. „Wenn es nur darum ginge!“, stöhnt Gabor Demszky, Repräsentant der Freien Demokraten, der Teilnehmer an den Gesprächen in Moskau war. „Die ungarische Regierung hat viel zu spät mit den Verhandlungen angefangen. Die finanziellen Fragen wurden mithin nur recht oberflächlich geregelt, obwohl viele Milliarden auf dem Spiel stehen.“ Bestätigt wurden seine Worte durch die Bildreportage der Zeitung 'Mai Nap‘. Gezeigt wird eine verlassene und total demolierte Kaserne der Sowjets'in der sogar die elektrischen Schalter abmontiert sind. In ähnlichem Zustand gelangte das einstige königliche Lustschloß in Gödöllö zu dem Ungarn zurück.

Offiziellen Angaben zufolge betrifft der Abzug 100.000 Personen, die zivilen Angestellten und die Familienmitglieder mit inbegriffen. „Bis zu Beginn der Verhandlungen hatte der Generalstabschef der Ungarischen Armee keine offizielle Information über die Zahl der 'provisorisch‘ in Ungarn stationierten Sowjetsoldaten, ebensowenig darüber, welche Ausrüstung sie besitzen“, wurde im Ministerium für Verteidigungswesen erklärt. In Schätzungen werden die laufenden Kosten zwischen zehn und 15 Milliarden Forint veranschlagt (500 bis 700 Mio. DM). Das ist ein nicht unerheblicher Batzen, jede Forintmilliarde kann das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen.

Die Sowjets weisen noch auf die Transportprobleme hin. Es gäbe zu wenig Waggons, die Durchlassungsfähigkeit an der sowjetischen Grenze sei zu gering usw. „Wenn es bloß darum geht, daß die Rote Armee zuwenig Transportmittel hat, wollen wir gerne helfen“, erklärte einer der Leiter des Taxiunternehmens in Szekesfehervar. „Wir sind gerne bereit, jeden Sowjetsoldaten im Taxi bequem bis zur Grenze zu fahren.“