„Würfeln wäre ein billigeres Verfahren“

Dr. Dieter Roth, Vorstandsmitglied der Mannheimer „Forschungsgruppe Wahlen“ zu Umfragen in der DDR  ■ I N T E R V I E W

taz: Wahlumfragen in der DDR haben Hochkonjunktur. Wie aussagekräftig sind sie, angesichts der Tatsache, daß die Mehrzahl der DDR-Bürger 40 Jahre im Wohnzimmer anderes dachte, als sie auf der Straße äußerte?

Dr. Dieter Roth:Das ist eine sehr berechtigte Frage, denn das „Feld“ in der DDR - so der Fachbegriff für die zu Befragenden - ist für uns völliges Neuland. Die alten Felder in der DDR inclusive der Interviewerorganisationen sind problematisch, in der Regel total SED-verseucht und nach inakzeptablen Methoden aufgebaut.

Was bedeutet das konkret etwa für das Leipziger Jugendforschungsinstitut, das die ersten Umfragen veröffentlichte?

Das Insitut kooperiert mit einem Marktforschungsinstitut. Dessen Methode im Feld ist im Westen unbekannt: Die Interviewer drücken den Befragten die Fragebögen in die Hand und kommen nach einer halben Stunde wieder zum Abholen des Bogens. Damit ist keine Kontrolle darüber möglich, wer den Fragebogen ausgefüllt hat. Aber dies war die einzige Methode in der „alten“ DDR, zu anonymen Informationen zu kommen. Ob die Leute jemals die Wahrheit sagten, ist zweifelhaft.

Inwiefern gewährleisten DDR-Umfragen eine repräsentative Stichprobe?

Ich habe bisher nie herausgefunden, wie diese „repräsentativen“ Stichproben gezogen wurden. Das Leipziger Marktforschungsinstitut hat einfach gesagt, sie hätten eine repräsentative Stichprobe und die entspräche den Strukturen in der DDR. Wir wissen, daß diese Strukturen sich auf die Volkszählung 1981 beziehen. Seither hat die DDR sich enorm verändert. Die Strukturinformationen über Gemeinden und Stimmbezirke sind geschönt, lückenhaft und total veraltet. Das vergrößert die Fehler derart, daß man mit den Umfrageergebnissen nichts machen sollte. Demgegenüber stützen wir uns im Westen auf neueste Daten und können erprobte Methoden anwenden. Das große Problem in der DDR besteht darin, daß wir bei unserer ersten Umfrage in dieser Woche mit neu geschulten Interviewern Face-to-face -Befragungen durchführen. Das sind die Leute nicht gewohnt. Deshalb werden wir die Umfrage nicht für Prognosen benutzen, sondern nur, um die Wahlentscheidungen auffächern zu können.

So zurückhaltend geben sich nicht alle BRD-Institute. Deren Ergebnisse klaffen auseinander.

Stimmt. Aus den vier am Wochenende bekanntgewordenen Umfragen kann sich jede Partei aussuchen, ob sie pessimistisch oder optimistisch gestimmt auftreten soll. Wie's gerade paßt. Für die PDS werden Zahlen zwischen 7 und 17 Prozent, für die SPD Werte zwischen 30 und 44 Prozent und für die Allianz Zahlen von Anfang 20 bis 36 Prozent genannt. Solche Differenzen hat es noch nie in irgendeinem westlichen Land so kurz vor einer Wahl gegeben. Daraus können Sie sehen, daß man auch würfeln kann, und das wäre ein sehr viel billigeres Verfahren. Andererseits ist es natürlich nötig, dieses Land irgendwann demoskopisch zu erobern.

Gleichwohl wird mit Wahlprognosen - erst lag die SPD weit vorn, jetzt sackt sie ab - Politik betrieben.

Es gab starke Stimmungsschwankungen in der DDR, aber uns fehlt das Instrument, diese überprüfbar zu messen. Stichproben, die unseren Anforderungen genügen, können erst nach der Wahl gezogen und dann auch kontrolliert werden.

Gibt es Anhaltspunkte für die Wahlbeteiligung?

Nein. Die meisten Leute, die drüben Informationen aufnehmen, sprechen mit Leuten, die politisch viel stärker interessiert sind als alle anderen und daraus ziehen sie ihre Schlüsse. Das ganze ist ein Hörensagen von Informationen. Auch wegen der großen methodischen Erfassungsprobleme haben wir keine zuverlässigen Daten.

Interview: Petra Bornhöft