KPdSU verliert das Monopol der Macht

■ Artikel 6 und 7 der sowjetischen Verfassung mit großer Mehrheit gestrichen / Die Bahn für Michail Gorbatschow ist frei: Einrichtung des Präsidentenamtes verabschiedet / Litauens Unabhängigkeit wird nicht anerkannt - Gewalt soll jedoch ausgeschlossen bleiben

Moskau (ap/taz) - Mit der unerwartet großen Mehrheit von 1.771 zu 164 Stimmen hat der Kongreß der Volksdeputierten gestern nachmittag das Machtmonopol der KPdSU beendet. Die Artikel 6 und 7 wurden aus der Verfassung gestrichen. Diese Entscheidung bedeutet praktisch die Einführung des Mehrparteiensystems in der Sowjetunion. Gleichzeitig stimmten 1.817 Delegierte bei nur 133 Gegenstimmen und 61 Enthaltungen für das Amt des Präsidenten der Sowjetunion, das auf Michail Gorbatschow zugeschnitten und mit weitgehenden Machtbefugnissen ausgestattet ist. Mit beiden Entscheidungen folgte das Gremium den am letzten Sonntag erarbeiteten Empfehlungen des ZK-Plenums der Kommunistischen Partei - und damit den Vorschlägen Gorbatschows.

Überraschend ist die breite Zustimmung zu diesen Vorschlägen, da im Vorfeld der Abstimmung die liberale „Interregionale Gruppe“, in der sich über 300 der radikaleren Reformer versammelt haben, an dem Entwurf über das Präsidentenamt scharfe Kritik geäußert hatte.

Mit dem Amt des Präsidenten hat sich Gorbatschow, der sich noch gestern (nach Redaktionsschluß) gegen Ministerpräsident Nikolai Ryschkow und Innenminister Wadim Bakatin zur Wahl stellte, weitgehende Befugnisse gesichert. So darf der Präsident die Anwendung von Regierungserlassen nach freiem Ermessen aussetzen, kann mit Dekreten regieren, den Ausnahmezustand in einer Region oder Republik verhängen. Dazu muß er nicht die Regierung vor Ort konsultieren. Er kann sogar einen persönlichen Stellvertreter im Gebiet des Ausnahmezustandes einsetzen, der die Regierungsgeschäfte weiter führt. 1995 soll der Präsident direkt vom Volk gewählt werden.

Am Rande des Kongresses traf Michail Gorbatschow mit dem litauischen Parteichef Algirdas Brasauskas zusammen. Gorbatschow habe ihm keine Vorwürfe gemacht, erklärte der Litauer nach dem Gespräch. Doch wurde die Unabhängigkeitserklärung Litauens vorher von Gorbatschow als ungültig bezeichnet. Auf der Sitzung hatte er erklärt, die Beschlüsse des Obersten Sowjets von Litauen „sind aus unserer Sicht nicht in Kraft, weil das litauische Parlament für sie keine Entscheidungskompetenz hat“. „Bis zur Klärung der ganzen Situation im Rahmen des Obersten Sowjets, in der Nationalitätenkammer und der Regierung werden wir weitermachen wie bisher“, sagte Gorbatschow. Der Partei und Regierungschef lehnte die Aufforderung Litauens ab, über die Unabhängigkeit zu verhandeln. „Von irgendwelchen Verhandlungen kann keine Rede sein, denn Verhandlungen führen wir nur mit fremden Staaten.“ Der Kongreß unterstützte diese Erklärung mit starkem Beifall.

Die Kongreßabgeordneten der baltischen Staaten betrachten sich als „eingeladene Beobachter“ und werden sich auch nicht an der Präsidentenwahl beteiligen. Eine andere Meinung vertritt der Chef der litauischen KP und bisherige Präsident Brasauskas, der ebenfalls auf Unabhängigkeitskurs ist, aber die hastige Vorgehensweise des litauischen Parlaments kritisiert. Brasauskas sieht Litauen vor einer komplizierten Phase von mindestens vier Monaten Dauer. „Litauen riskiert eine schwierige Zeit, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.“ Brasauskas fürchtet, daß angesichts rechtlicher und finanzieller Unsicherheiten Rohstoff- und Energielieferungen aus der UdSSR unterbrochen werden könnten. Weit drastischer sehen das die Vertreter der sowjetischen Zentrale. Ligatschow: „Ihr solltet überlegen, ob ihr nicht das Volk ins Unheil stürzt.“ Sljunkow: „Ihr werdet untergehen, Freunde!“ Beide schlossen allerdings Waffengewalt gegen Litauen aus.

Der litauische Beauftragte auf der Leipziger Messe Tarvydas erklärte gegenüber 'ap‘, sein Land werde die traditionellen ökonomischen Beziehungen zur Sowjetunion aufrechterhalten. Ob Litauen weiter Mitglied im RGW sein werde, wußte Tarvydas nicht zu sagen: „Niemand weiß bisher, wie es weitergehen wird.“

Von der US-Regierung war zu hören, daß sie den neuen Staat vorerst nicht anerkennen werde. In einer ziemlich gewundenen Erklärung betonte das Weiße Haus, es komme darauf an, ob die Regierung Litauens wirklich Kontrolle über das Land ausübe. „Vieles davon muß jetzt noch mit der Sowjetunion ausgehandelt werden“, erklärte Sprecher Fitzwater in Richtung Gorbatschow.

c.s./er