Gregor Gysi: „Die DDR ist wunderschön“

■ Wahlkampf- und Starrummel um den PDS-Chef - im Provinznest Seelow, Bezirk Frankfurt an der Oder / Der Parteivorsitzende, die Bauern und Susi, das Ferkel - ein Heimspiel bei den heimlichen Wählern auf dem Lande

Sonntag nachmittag in Seelow, Bezirk Frankfurt/Oder. Ein unscheinbares Provinznest, 60 Kilometer östlich von Berlin. Rund um die Stadt riesige landwirtschaftliche Genossenschaften, getrennt in Pflanzen- und Tierproduktion. Die PDS hat hier, für die Bauern von 42 Kreisen, eine „Politkirmes“ angekündigt.

Vor dem Kreiskulturhaus „Erich Weinert“ ist der Platz gut gefüllt, am Rand sind Informationsstände, auf der Straße sieben oder acht Buden mit Kunstgewerbe. Umlagert ist nur der Wurststand. Musik. Rechts der Treppe spielt ein Blasorchester der sowjetischen Armee im Wechsel mit dem links aufgebauten Jugendblasorchester. Alle warten, alle wissen: Gleich kommt Gysi. Ein Menschenknäuel, aus dem Mikrophone und Kameras ragen, bewegt sich an den Buden vorbei Richtung Kulturhaus. Gregor Gysi ist klein, kaum jemand sieht ihn leibhaftig. Er wird bedrängt und beklatscht. Kein Zweifel, hier wird er geliebt. Die Opposition hat es schwer, von der Konkurrenz ist nur die CDU da. „Nie wieder Sozialismus“, heißt es, und ein Transparent wird hochgehalten: „Lügen haben kurze Beine - Gregor Gysi, wo sind deine“. Viel Schwarzrotgold haben sie dabei, die jungen Männer der Allianz, aber im Papierkrieg ist die PDS hier und heute überlegen. Plakate, Prospekte und Flugblätter gibt es dennoch reichlich. „Dieses Plakat wurde nicht in der BRD gedruckt.“ Da ist kein Hochglanz, und holzfrei sind die Papiere auch nicht.

Auf die Pritsche eines Lastwagens werden zwei Kunstledersessel gehievt, ein Couchtischchen, Platz für Gysi. Er war schneller als die Technik, die Mikrophone sind noch nicht da, und so gibt er seine Unterschrift, auf Fähnchen, Broschüren, Aufklebern, ein Parteibuch wird mit seinem Signum geadelt. Eine Lawine von Sympathie, es ist zu ahnen, der Auftritt in Seelow ist ein Heimspiel. Für die bangenden Genossen ist Gysi die Hoffnung, ein sozialistisches Idol, das Autogramm ein Versprechen für eine bessere Zukunft. „Zeit zum Träumen“, sagt die PDS, „Genossenschaftsbauern, nutzt Eure kollektive Kraft! Zerschlagt sie nicht!“ Es soll Spaß machen, im Dorf zu leben und zu arbeiten, und deswegen darf die Bodenreform nicht rückgängig gemacht werden.

Aber landwirtschaftliche Probleme sind nicht das Hauptthema in der Bauernstadt Seelow, man will Gysi sehen und hören. Und Gysi redet gerne und gut, und er weiß es. Fast scheint es, als seien ihm der Gegner zuwenig, er würde gerne ein paar Zwischenrufe mehr haben. Die kleine Oppositionsgruppe hat aufgegeben, das zaghaft angestimmte Deutschlandlied verebbt nach einigen Takten, der Mißerfolg wird in Unmengen von Bier ertränkt. Gysi plädiert ungestört für eine selbstbewußte DDR, und seine Pointen sitzen. Bei den besten läßt er die Zunge genießerisch über die Lippen kreisen, bis das Lachen und der Beifall verstummt sind.

Fragen werden gestellt. Liebe Fragen. Er geht auf alle ein, und fast alle machen es ihm einfach. Natürlich, da ist wieder die Frage nach dem Parteivermögen, aber typisch ist eher diese: „Gregor, woher nimmst du deine Kraft?“ - „Na von euch, von wem denn sonst!“ Die Basis ist gerührt, und groß ist der Jubel, als er die Grüße „von unserem Ehrenvorsitzenden Hans Modrow“ überbringt. Immer wieder wird was hochgereicht, Gregor unterschreibt, während die nächste Frage gestellt wird. „Gregor, wie sieht die DDR von oben aus?“ Der Fallschirmspringer strahlt: „Schnell, aber wenn der Schirm sich öffnet, ist sie wunderschön... und deshalb sollten wir sie nicht verschenken.“ Welch ein Plädoyer! Die Gemeinde nimmt es mit gläubiger Freude auf, da steht doch einer und sagt ihnen, daß es noch was zu retten gibt. Träume fliegen hoch: Mit wem er denn eine Koalition bilden würde? Die Antwort (mit allen linken Kräften) bleibt unbestimmt, denn eine Regierungsbildung ist außerhalb jeder Vorstellungskraft. Und Gysi, das ist der geborene Oppositionspolitiker. Er freut sich darauf. Überhaupt scheint ihm die ganze Sache riesig Spaß zu machen, schlagfertig ist er und charmant. Nur einmal trifft er nicht den Ton. Die LPG aus Markenwerder schenkt Gysi ein Ferkel, Susi heißt es, und Gysi wird zum Schlachtefest im Herbst eingeladen. „Nein“, sagt der Intellektuelle, „man kann doch nicht ein Tier mit Namen schlachten.“ Das verstehen die Bauern nicht, keine Hand rührt sich zum Beifall, und dankbar wird die Peinlichkeit weggelacht, als Gysi vorschlägt, doch ein anonymes Schwein zu essen.

Es bleibt dabei, für die Parteibasis und vor allem für die engagierten Jugendlichen in Seelow symbolisiert Gysi einen Neuanfang. Und dazu braucht man Mut, der Wind aus dem Westen bläst rauh. Die Realität ist die: „Früher waren wir stark, weil es offene Wahlen gab, heute wählt man uns heimlich in den Kabinen.“

Kasper/Aku