Eine Frage der Geschwindigkeit

■ Nachgemachter Chaplin: Charles Lanes Stummfilm „Sidewalk Stories“

Am Anfang flaniert die Kamera. Geht spazieren durch New York, bleibt manchmal stehen, inmitten hastiger Passanten, da gibt es was zu gucken, dort streiten sich ein paar um ein Taxi, drüben sind die Gaukler, ein Jongleur, ein Bauchredner, ein Tänzer, ein Porträtist. Im Moment hat er keinen Kunden, er spielt, gedankenverloren, Schlagzeug auf seinen Knien. Geschichten vom Bürgersteig, schwarzweiß, ein Stummfilm.

Auch die Filmmusik ist noch unschlüssig. Zunächst klingt sie modernistisch, aber das ist ein Mißverständnis: das Orchester stimmt noch. Dann beginnt es richtig zu spielen, der Takt paßt nicht zu dem Rhythmus, den der Straßenkünstler auf seine Knie klopft. Weshalb sollte er auch.

Aber dann wird es leitmotivisch. Side Walk Stories erzählt nämlich doch eine Geschichte. Die Geschichte des Porträtisten, eines armen, kleinen Schwarzen, der im Abrißhaus wohnt, seinen großen, starken Konkurrez -Straßenmaler aussticht, und ein zweijähriges Mädchen aufgabelt - eine entzückende Kleine -, das seine Eltern verloren hat. Die beiden schlagen sich durch, mit Charme und ein paar Gaunereien, bis sich zu guter Letzt die Mutter wiederfindet. Der Spaziergang ist zu Ende.

Regisseur Charles Lane, der den Porträtisten spielt, versteht seinen Film als Hommage an Chaplin. Der Protagonist ist gewissermaßen die schwarze Variante des Tramp, die Geschichte ist die von The Kid, und die Slapsticks - wie der kleine Schwache seinen großen starken Konkurrenten austrickst - sind auch von Chaplin abgeguckt. Das Problem: Der Film ist zwar stumm, mit auskomponierter Musik, hat aber nicht das Stummfilmtempo. Side Walk Stories krankt an der Normalität der Spielfilmgeschwindigkeit: Lanes Protagonist hat Zeit, greift ein, entscheidet, ist Herr seiner selbst. Chaplins Tramp wird getrieben und gerät permanent aus der Spur. Hut und Stock kaschieren das nur dürftig. Eben dies macht ihre Komik. Chaplins Kid ist ein Gör, die Kleine bei Lane immer perfekt angezogen. Lanes Figuren sind ausschließlich Opfer: Die Verhältnisse sind schuld - der arme Kerl, das arme Kind. Der Tramp dagegen ist immer auch selber schuld: Der arme Kerl, aber wie kann man nur so blöd sein. Lanes Film ist ernsthaft sozialkritisch - es geht um die homeless people im reichen Amerika - Chaplins Filme sind komisch, gerade weil sie angesichts der kleinen alltäglichen Katastrophen, jede Minute eine neue - die Sozialkritik „nur“ en passant enthalten: keine Zeit für Pathos. Bei Chaplin lachen wir mit einem weinenden Auge, bei Lane weinen wir und dürfen gelegentlich schmunzeln.

Ein betulicher Film. Der Spaziergang am Anfang hat mir gefallen.

chp

Charles Lane: Sidewalk Stories, mit Charles Lane, Nicole Alysia, USA 1989, 97 Min.