Ohne Unterleib

■ Ein behinderter Junge spielt sich selbst: „Kenny“ von Claude Gagnon

Mein Großvater hat mir jeden Abend eine Gute-Nacht -Geschichte erzählt. Fasziniert war ich von einer Begegnung mit der Dame ohne Unterleib. Sie wurde auf einem Jahrmarkt ausgestellt und trug eine Perlenkette. Jahre später habe ich vor der Frankfurter Oper einen Mann ohne Unterleib gesehen. Er hat gebettelt. Ich mußte ihn immer wieder anstarren.

In letzter Zeit kam eine Reihe von Spielfilmen über Behinderte in die Kinos. Dustin Hoffmann spielte den Autisten Raymond. In Mein linker Fuß verkörperte Daniel Day Lewis den begabten Künstler und Rollstuhlfahrer Christy Brown. Schauspieler versuchen sich in die Behinderung einzufühlen und das andere als das „Normale“ darzustellen.

Kenny, der Film des kanadischen Regisseurs Claude Gagnon, ist authentischer. Hauptperson ist - inmitten professioneller Schauspieler - ein behinderter Junge, der sich selbst spielt. Er heißt Kenny Easterday. Aus zahlreichen Gesprächen mit Kenny und seiner Familie entstand ein dokumentarischer Spielfilm, der „wahre“ Begebenheiten mit fiktiven Szenen verknüpft: Erzählt wird das (mehr oder weniger) alltägliche Leben eines behinderten Kindes.

Kenny ereignet sich in einem Arbeitervorort von Pittsburgh, USA. Vater Easterday trägt Jeanswesten und ist arbeitslos. Mutter Easterday sitzt ungekämmt im Morgenrock am Frühstückstisch. Tochter Sharon Kay fühlt sich unverstanden und will ausbrechen. Sohn Jesse, 15, fährt BMX -Rad und übt Petting. Im Hintergrund rauscht meist der Fernseher. Eigentlich eine ganz normale amerikanische Familie - wäre da nicht der behinderte 13jährige Kenny.

Seit einer Amputation kurz nach der Geburt ist Kenny ein Kind ohne Unterleib. Und ein richtiger Racker. Er ist neugierig und frech. In bedruckten T-Shirts streunt er mit seinem Walkman rum. Wenn er nicht auf seinen Händen läuft, macht er auf seinem Skateboard die Gegend unsicher. Da Kenny so sein will, wie er ist, lehnt er die Beinprothese ab, mit der er zwar nicht gehen, aber „normal“ aussehen würde.

Wie seine Geschwister wird Kenny von den Eltern ernst genommen, gelobt und gestraft. Und doch weiß sich Kenny in den Mittelpunkt zu setzen, beansprucht besondere Aufmerksamkeit und Zuneigung. Die komplexen psychologischen Schwierigkeiten, die sich in der Familie aus dem Zusammenleben mit einem behinderten Kind ergeben, streift der Film zu oberflächlich: Die Eifersucht der Schwester wird auf eine überzogen dramatische Schlußsequenz reduziert, die Haßliebe des älteren Bruders, den Kenny des öfteren behindert, wird nur angedeutet.

Von den Schwierigkeiten, einen „realistischen“ Film über Behinderte zu machen, erzählt Gagnon mit Hilfe eines fiktiven französischen Fernsehteams, das Kennys Leben dokumentieren will. „Lieben Sie Kenny? Können Sie ihn anfassen?“ In den Fragen an die Eltern spiegelt sich Unsicherheit und Unverständnis der Nicht-Behinderten. Übertrieben gefühlvolle Einstellungen lassen erahnen: Am Ende wird sich der Film im Film zu einem Rollstuhlrührstück verdichten.

Gagnons Film dagegen stellt Kenny weder als Krüppel noch als Exoten zur Schau. Voyeurismus, Unbehagen und Mitleid verschwinden aus den Blicken der sogenannten „Normalen“. Doch Toleranz und Akzeptanz von Behinderten scheinen nicht überall gefragt: In den USA hat es Kenny jedenfalls bisher nicht geschafft, in die Kinos zu kommen.

Michaela Lechner

Claude Gagnon: Kenny, mit Kenny Easterday, USA, Kanada, Japan 1987, 100 Min.