Blutiges Nachspiel beim Kohl-Auftritt

■ Allianz ignorierte Beschluß0 des Runden Tisch / Wahlkampfveranstaltung mit Kohl in Leipzig / 250.000 feierten den Kanzler / Blutige Krawalle zwischen Deutschnationalen und Gegendemonstranten...

„Heute bleibt keiner zu Haus“, begrüßte uns der singende Kohl zu jeder Ausgabe „Hurra Deutschland“. Manche können ihn seit dieser Sendung überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Das ist wohl ein Fehler. Männer mit diesem Gesicht sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ungefähr eine Million Bürger der DDR sahen den Bundeskanzler der BRD auf seinen sechs Wahlkundgebungen. Am Mittwoch setzte er in Leipzig einen zwiespältigen Schlußpunkt.

Den ersten Ärger gab es schon zwei Wochen vorher. Da hatte der Leipziger Runde Tisch gegen die Stimmen von CDU und DA am 1. März beschlossen, während der Messe auf Wahlveranstaltungen in der Innenstadt zu verzichten. SPD und Liberale, die mit Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher ebenfalls Wahlspektakel geplant hatten, fügten sich dem demokratischen Beschluß. Die „Allianz für Deutschland“ nicht. Bürgerbewegungen und linke Parteien (außer PDS) protestierten deshalb vor der Veranstaltung gegen Kohls Auftritt. Jochen Läßig (Neues Forum) äußerte auf einer improvisierten und schlecht besuchten Pressekonferenz im Uni -Innenhof leise Befürchtungen. „Autonome aus der linken Szene haben sich angekündigt. Ich hoffe, es bleibt gewaltlos“, sagte der Mitorganisator der Montagsdemos.

Das blieb es zunächst auch, wenn man von der gewaltigen Menge absah, die der Leithammel der deutschen Konservativen auf die Beine brachte. 250.000 Sachsen kamen und feierten den Helmut schon als ihren Kanzler. Mit Blasmusik, Jodlergesang und Bier vom Faß eingestimmt, herrschte bald eine Stimmung wie in ausverkauften Fußballstadien nach einem hohen Heimsieg. Ein Fahnenmeer in schwarz-rot-gold und Sachsens grün-weiß feuerte die Redner an. Geradezu untergegangen sind die wenigen Gegenlosungen wie „Kohls Kohle stinkt“, „CDU schon immer eine Dirne, erst von Honni, jetzt von Birne“ und eben „Kohl präsentiert: Arroganz für Deutschland“.

Drei Redner mühten sich dann im Vorspiel zum Hauptakt. DSU -Chef Ebeling zog in einem Jargon, der an schlechteste deutsche Zeiten erinnerte, gegen alles Linke zu Felde. „Vierzig Jahre Schutt und Schrott können wir nur mit der reichen Bundesrepublik beseitigen“, bringt er es auf einen Nenner. Daß der Wahlkampf zur Schlammschlacht und zur Stasi -Farce abgesunken war, bedauerte gerade er aufrichtig. Apropos Stasi: Nachdem der DA-Generalsekretär Wutzke die peinliche Schnur-Hürde übersprungen hatte, konnte auch er sich in Form reden. Die „sozialistische DDR sei eine tote Kuh, von der man keine Milch erwarten könnte“. So waren die Luftballons nicht die einzigen Blasen, die an diesem Abend aufstiegen. Die CDU-Ost kam mit Lothar de Maiziere. Freiheit, Wohlstand, Umweltschutz und Demokratie versprach er den Leuten, wenn, ja wenn das Kreuzchen an der richtigen Stelle des Wahlscheins gekreuzt würde. Und nur darum ging es ja.

Dann kam Kohl. Rostocker Mißtöne hatte er hier nicht zu fürchten. Die Leipziger Gefolgschaft empfing ihn mit Jubel und Hochrufen. Kohl sagte schließlich, was die Leute vom Kanzler hören wollten: „Der Sozialismus ist out, keiner will ihn mehr haben“. Die Zukunft wird gut. Deutschland wird stark. Leipzig ist dabei. Den Bürgern bescheinigte er Klugheit und Intelligenz. Dennoch mußte Kohl warnen, daß man sich die Sinne nicht von dieser linken Angstpropagande vernebeln lassen solle. Und gerade, als er auf die kleinen Ängste der kleinen Leute zu sprechen kommen wollte, fiel sein Mikro aus. „Das sind die Roten“, analysierten besonders kluge aus der Menge. Beim zweiten Stromausfall hatte es auch Helmut dann kappiert: „Auch der letzte Stasi-Bohrer kann uns nicht aufhalten.“ So geistvoll schickte der westdeutsche Regierungschef seine Schäfchen dann auch nach Hause. Die Kundgebung war zu Ende, also konnte es losgehen.

Die ungefähr 500 Anhänger des Neuen Forum und anderer Gruppen hatten schon während der Demo mit Trillerpfeifen, DDR-Fahnen und Anti-Sprechchören den Zorn der Masse auf sich gezogen. So mußten sie einen Skinhead-Sturmangriff und Buttersäure-bomben über sich ergehen lassen. Fortsetzung auf Seite 2

Leipzig...

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Die Situation wurde jedoch auch durch vermummte Autonome aus Leipzig und West-Berlin angeheizt. Kohl-Poster als Zielscheiben und Rauchbomben brachte die Menge weiter auf. Die Aggressivität wuchs mit den Sprechchören: erst „Rote raus“, dann „Wir wollen keine roten Schweine“, schließlich „Hängt die Roten auf“. Die Linken flüchteten Richtung Studentenzentrum „Moritzbastei“. Der MB-Eingang konnte von der hinterherstürmenden Meute nicht aufgebrochen werden. Aber auf dem alten Gemäuer wurden dennoch „DDRler“ gesichtet. Skinheads schlugen sie gleich dort oben zusammen. Ein etwa 1,85 Meter großer, dunkelhaariger, halbvermummter Jugendlicher hielt anscheindend die Fäden bei den Faschos in der Hand. Er hielt die Aktion ab und organisierte den Sturm auf die Unimensa. Bereitwillig schlossen sich den Skins viele „normale“ Bürger an. In der Mensa halten sich zu dieser Zeit vor allem ausländische Studenten auf. Außerdem waren einigen der linken Autonomen hierher geflüchtet. Eine mongolische Studentin schildert ihre Eindrücke: „Mit einemmal drangen durch die Mensa-Tür viele Kahlköpfige und andere Männer ein. Sie brüllten 'Ausländer raus‘ und 'Wo sind die Roten‘. Wir flüchteten in die andere Ecke der Mensa. Es bildeten sich so zwei Fronten. Dann wurde geschlagen. Von beiden Seiten. Ein Junge wurde in die Fensterscheibe gestoßen. Er blutete am Kopf. Ein anderes Mädchen wurde von den Skinheads häßlich geschlagen. Und dann kam die Polizei.“ Zur gleichen Zeit wurde eine Hintertür der Mensa aufgebrochen, durch die Studenten und Linke flüchten konnten. Vier Mannschaftswagen der VP trafen ungefähr 7 Minuten nach dem Mensa-Sturm an der Uni ein. Die Polizisten gingen mit Hunden und Stöcken gegen die Faschos vor. In der Mensa entstand Sachschaden. Der Einsatzleiter der Polizei wollte vor Ort keine Zuführungen bestätigen. Zwei Personen wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Zum Schluß doch noch einmal Kohl: „Die gewaltlose Revolution in Leipzig hat den Bürgern dieser Stadt weltweit Achtung und Sympathie eingebracht.“ Da hat er ausnahmsweise recht. Aber das ist lange her. Hurra Deutschland.

Hagen Boßdorf