: Sagen, was zu sehen ist
■ Jean Jacques Soukup: „Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch“
Diesmal waren die Schwulen schneller! Viel schneller! Als ganz Ostdeutschland durch ganz Westdeutschland quirlte, Trabi Mercedes die Vor-Fahrt stahl, die Bundesregierung Begrüßungsgeld mit vollen Händen nicht zum Fenster hinauswarf, der ungeschützte Ost-Schwulen-Strom in die Aids -Szene einsickerte, schaute man nicht mit verklärtem Augenaufschlag sprachlos drein. Am ersten Wochenende nach dem Zusammenbruch des Berliner Zementwalls saßen sich Deutsche von hie und da im Waldschlößchen von Gleichen -Reinhausen vis-a-vis. Die aus allen Himmelsrichtungen angereisten Homosexuellen waren nicht gekommen, um sich zu beäugen und gar zu befingern. Es gab genug zu sagen, was sich sehen lassen kann.
Von Jean Jacques Soukup, dem Herausgeber, schnell buchgerecht aufbereitet, erscheint das Tagungsmaterial in der „Schriftenreihe des Waldschlößchens“, die mit dem Band Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch startet. Kein Fehlstart! Ein Buch ist auf der Strecke, dem nicht frenetisch applaudiert werden muß, das aber Anspruch hat, beachtet zu werden. Erstens, weil die Brüder im Westen wenig vom wirklichen Schwulen-Leben der Brüder im Osten wissen. Zweitens, weil den Ossis eine vergleichbar opulente, öffentliche Selbstdarstellung bis dato völlig fehlt. Drittens, für die Information in westdeutschen Breiten gut geeignet, kann die Publikation auf der ostdeutschen Szene -Seite einen Solidareffekt auslösen.
Eher flüsternd denn lautstark tönend nennen Herausgeber und Veranstalter das, was sie bieten, „Versuch einer Bestandsaufnahme“. Das ist weder über- noch untertrieben. Für die DDRler ist die Bestandsaufnahme mit einem Wiedererkennen, für die Westler mit einem Erkennen verbunden. Das Gute der Aufgabe: fast alles ist Originalton. Daß der Anfang mit einem Aufguß gemacht wird, also mit dem Aufsatz Die Akustik des Brückenbogens von Jürgen Lemke (Ganz normal anders) wird hoffentlich niemanden verprellen. Lemkes „Rosa-rote Vision“ nimmt keine Zukunft vorweg. Mit leicht satirischem Sinn summiert der Autor die Wirklichkeit der Schwulen vor und während der Wende made in GDR. „Gehen wir auf die Barrikaden!“ hämmert Lemke den Homosexuellen aller deutschen Länder ins Hirn, damit sie im Haus Europa nicht in „zwei Kellerräumen“ landen. Der eher bitter-ironische, nie aber böse Text macht Laune und ist kein schlechter Köder. Sich an ihm festzuhaken, wäre aber eine Gefahr. Keiner der anderen Beiträge hat einen vergleichbaren sprachlichen Schwung. Einige Texte sehen aus wie Versuche, in der Badewanne schwimmen zu lernen. Dennoch wäre es unfair, die Seiten zu überblättern, die - zum Beispiel - über „Homosexuelle in der DDR“ berichten, über staatliche Schwulenklubs in Leipzig und Dresden. Ärgerlich wäre es auch, wenn die profunden Artikel der Ostberliner Sexualkundler Günter Grau und Bert Thinius gänzlich unbeachtet blieben. Bedauerlich ist, daß in der Bestandsaufnahme die Zentren der Kirche nicht zu Wort kommen, die die Schwulenbewegung der DDR zu Beginn der achtziger Jahre in Gang brachten. Ein Defizit, das den Band herabdrückt.
Mitten aus dem großen Teich gezogen und deshalb schön klitschnaß - die Interviews, die Ulli Klaum mit sechs Ost -Gästen des Seminars führte. In den Gesprächen reibt sich keiner am Thema trocken. Einige Um-Triebe werden zum Anlaß, sich nicht saft- und kraftlos zur Sache zu äußern, also zur Situation der Schwulen in der Gesellschaft der DDR, die nicht in einer Novembernacht eine ganz andere, neue, bessere Gesellschaft wurde. Das Wort Bestandsaufnahme verspricht keine komplette Zusammenfassung. Der Band Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch ist eher ein Ansatz, der darauf aufmerksam macht, wie schwules Leben in der DDR war, wie es sein sollte und könnte. Das Arrangement von Artikeln, Dokumenten der Tagungsgesprächsrunden, Personenbefragungen, Informationen machen aus dem Buch ein vorläufiges Nachlesebuch. Nicht nur für Beteiligte und Betroffene!
Bernd Heimberger
Jean Jacques Soukup: „Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch“. Schriftenreihe des Waldschlößchens, Bd. 1. 15 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen