Jetzt amtlich: Alle Macht dem Gorbatschow

■ Volksdeputiertenkongreß kürt mit 1.329 zu 495 Stimmen Michail Gorbatschow zum ersten Staatspräsidenten der UdSSR / Gegner Gorbatschows überraschend einig / Außenpolitische Erklärung betont Recht der Deutschen auf Einheit und Garantie der Grenzen / Neuer Vertrag der Union mit den Republiken angekündigt

Moskau (taz) - Michail Gorbatschow ist seit gestern der erste Staatspräsident der UdSSR. Er wird damit ähnlich wie der Präsident im französischen oder amerikanischen System den Mittelpunkt der politischen Macht bilden. Nicht zuletzt Gorbatschows Prestige im westlichen Ausland hat ihm geholfen, dieses neue Amt zu schaffen und zu erringen.

So ist es nicht verwunderlich, daß im Zentrum seiner Inaugurationsrede am Donnerstag die künftigen Beziehungen der UdSSR zum westlichen Ausland standen. Einen besonderen Platz räumte Gorbatschow dabei der Zukunft Deutschlands ein: „Die Position der UdSSR besteht im wesentlichen darin, daß die Verwirklichung des Rechtes der Deutschen auf Einheit völlig und für immer die Gefahr eines Krieges von deutschem Gebiet her ausschließen möge. Daraus leitet sich alles übrige ab - die Rechte der vier Mächte, die Garantie der Grenzen, die Verbindung zu den gesamteuropäischen Prozessen, die Unannehmbarkeit einer Einbindung Deutschlands in die Nato und die Notwendigkeit eines Friedensvertrages, der unter den Zweiten Weltkrieg den Schlußstrich zieht.“

Eine weitere Beschleunigung der Abrüstung bezeichnete Gorbatschow als wichtigstes Ziel seiner bevorstehenden Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten Bush: „Es ist Zeit“, bemerkte der neue Staatspräsident, daß wir daran denken, das System der Blöcke durch kollektive Organe zu ersetzen.“ Schon jetzt müsse man sich auf eine Helsinki-II -Epoche vorbereiten, „die vielleicht zur Grenze zwischen zwei historischen Epochen in den Beziehungen der Völker werden wird“. Innenpolitisch sprach sich Gorbatschow unter anderem für einen „neuen Vertrag der Union mit den Republiken“ aus, denen mehr Rechte und wirtschaftliche Unabhängigkeit zugestanden werden müßte. Zugleich bekräftigte er seinen Willen, die „Einheit des Landes“ zu bewahren. Der Oberste Sowjet werde diese „entscheidende Frage“ demnächst zusammen mit dem Nationalitätenrat, einer der beiden Kammern des sowjetischen Parlaments, erörtern. Im wirtschaftlichen Bereich kündigte er durchgreifende und teils schmerzhafte Reformen an.

Die Abstimmung über die Präsidentschaft Gorbatschows brachte für ihn zwar bei weitem mehr als den notwendigen Bonus von über 50 Prozent der Stimmen aller registrierten Abgeordneten des Kongresses der Volksdeputierten. Nach sowjetischen Maßstäben fiel sie aber dennoch eher knapp aus: Die 495 Gegenstimmen bei 1.329 Befürwortern seiner Präsidentschaft - knapp 400 Deputierte verweigerten gar die Teilnahme an der Wahl - sind nicht nur auf eine relativ geschlossene Haltung der oppositionellen „Überregionalen Deputiertengruppe“ zurückzuführen. Eine überraschend hohe Anhängerschaft fand auch Innenminister Bakatin. Daß er seine Kandidatur zurückzog, stieß auf so heftigen Protest, daß Bakatin schließlich erklärte: „Die Demokratie wird zwar für uns noch viele Paradoxa bereithalten, daß aber ein Mensch zum Staatspräsidenten geradezu vergewaltigt wurde, ist meines Wissens noch in keiner Demokratie geschehen.“ Zum Jammertal waren für Michail Gorbatschow vor seiner Erhöhung zum Staatspräsidenten am Mittwoch die Schluchten des großen Sitzungssaales im Kreml geworden. Die mangelnde Erfahrung vieler Delegierter im Umgang mit demokratischen Gepflogenheiten und der Versuch der Versammlungsleitung, dies auszunutzen, spielten derart mit der Furchtlosigkeit der neuen Opposition zusammen, daß es zu einer Kette von Peinlichkeiten einerseits und grundsätzlicher Kritik am Hauptpräsidentschaftskandidaten andererseits kam. Alles begann am Nachmittag mit einer kleinen „Bombe“, die der Leningrader Jurist und Völkerrechtler Anatolij Sobtschak Fortsetzung auf Seite 2

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gegen die Regierung zündete. Sobtschak, der bei der Diskussion vor der konstitutionellen Einführung des Präsidentenamtes umgangen worden war, rächte sich mit der Enthüllung, daß unter anderem auch Ministerpräsident Ryschkow Dokumente unterschrieben habe, die von seiner Mitwisserschaft um die illegalen Geschäfte der Großkooperative ANT zeugten. Die Firma war schon Mitte Januar zur Zielscheibe der sowjetischen Presse geworden, als ihr Versuch aufflog, strategisch wichtige Materialien über den Schwarzmeerhafen Novorossijsk ins Ausland zu verschieben. Unter dem potentiellen Exportgut befanden sich Stoffe zur Uranwiederaufbereitung und Quecksilber, deren Ausfuhr verboten ist, sowie einige funkelnagelneue T-4 -Panzer.

Obwohl Ministerpräsident Ryschkow selbst den sachlichen Inhalt von Sobtschaks Behauptung nicht bestritt, nannte Gorbatschow diese Beschuldigungen „würdelos“ und schlug vor, über den „Wunsch einiger Deputierter“ abzustimmen, den Gesamtauftritt nicht in die abendliche Fernsehzusammenfassung des Kongresses zu übernehmen. Die überraschend hohe Ablehnung dieses Vorschlags war die erste einer Reihe moralischer Niederlagen Gorbatschows an diesem Tag.

Barbara Kerneck