EIN SCHLICHTES „DANKE“

■ Wie wählen die Alten? / Ein Ausweg aus der Identitäts- und Lebenskrise / Gemeinsames Aufhängen und Löffelabgeben

Im Volksbildungsheim „Frohe Stunde“ geht es hoch her. „Hoch die Transporter! Hoch die Transporter!“ wird einstimmig immer wieder gerufen, offenbar hat man da im Eifer des Demokratelns etwas falsch verstanden. Einige Tausend tauschen billige Gysi-Rubbeleien gegen hochwertige Mielke -Schattenrisse, andere haben ihre persönlichen Wahlurnen, gefüllt mit vergilbten Blankoschecks und Erinnerungsstaub, mitgebracht und im Foyer ausgestellt. „Gestern“, berichtet die schlanke Mittfünfzigerin G. Heim, vormalig für Versiegelungstechnik zuständig „wußte noch niemand, wie es weitergeht. Aber seit Sie da sind und uns von der demokratischen Gemeinde und vom europäischen Haus erzählt haben, haben wir wieder ein Heim in Aussicht.“

Mit glänzenden Augen stehen ein paar hundert Waisenkinder um mich herum. Fragen prasseln auf mich nieder: „Wann ziehen wir um?“ - „Tante, gibt's da auch einen Garten?“ - „Müssen wir am Sonntag in die Kirche?“ - „Kuck mal, ich habe ein Kreuz mitgebracht!“ - „Nein, das ist mein Heiland, gib her, du bist gemein!!!“ Erst langsam legt sich die Erregung, als ich Kindern und Eltern mitteile, daß es sich bei der Wahl um kein religiöses Ritual handele und sie auch nicht ihrer privaten Leidenschaft des Jagens und Sammelns, des Strichlistens und Auflauerns abfrönen müßten, sondern daß es vielmehr darum gehe, die erworbenen Fähigkeiten in einem demokratischen System gewinnbringend einzusetzen. Denn niemand in der Bundesrepublik und Berlin habe etwas gegen sozialistische Kulturpflichtleistungen wie ordentliches Einreihen und regelmäßiges Händewaschen. Vielen stehen bei diesen Worten Tränen in den Augen, einige ballen gerührt die Fäuste. Am Rande der Veranstaltung sagt mir eine alte, ständig kopfrollende Frau: „Danke“. Ganz schlicht „danke“.

Der praktische Teil des Projekts nimmt dann doch alle Kräfte in Anspruch. Die Teilnehmer haben, um auch innerlich zur Ruhe zu kommen, eine halbe Stunde lang Transparente gemalt. Gemeinsam hängen wir sie an den Fenstern auf und reden dann darüber. Vieles Schöne ist entstanden: Mit vorbildlicher Kraft in die Demokratie! - Möge unsere zarte Marktwirtschaft weiterblühen! - Bürger! Mehret den Wert! - Wer nicht mehr wert ist verkehrt! usw. So eingestimmt wage ich es, das Volk an seine ureigenste Bestimmung heranzuführen: die Wahl.

Beim ersten Durchlauf klappt es bereits wie am Schnürchen, sieht man von geringen Fehlleistungen ab. Es fehlt an Gelassenheit beim Identifiziertwerden, manch einer rennt gleich in die Kabine und muß mühselig noch mal auf Metallrückstände untersucht werden. Andere geben statt des Stimmzettels den Löffel ab. Wieder andere sind, wie wir jetzt erst merken, gar nicht da, offenbar in ängstlicher Erwartung, daß die Urnen wie früher ins Haus kommen und abgeholt werden. Zwei ungefähr zweiunddreißigjährige Männer halten sich, miteinander konspirierend, beim Ausfüllen die Augen zu, damit sie „in der Kabine nicht erkannt werden“. Eine bekannte Sekretärin, ehemals Außendienst, 593 Anschläge in der Minute, übt sich im Blindkreuzigen. Bei der Auszählung müssen mühevoll über die Hälfte der Stimmzettel über Wasserdampf entsiegelt und entschlüsselt werden, wobei sich herausstellt, daß im Eifer des Gefechts die für die Stimmabgabe vorgesehenen Leerkringel mitcodiert worden sind.

Nach der Gepropro üben wir demokratische Selbstkritik. Ein Pulk Hausfrauen verkündet: „Mit billigen Parolen wurde hier die Bevölkerung eingeschüchtert! Diese Partei stellt sich außerhalb der demokratischen Spielregeln!“ Ein Trupp mittelgroßer Halbwüchsiger antwortet: „Wir müssen eine schwere Niederlage einstecken. Wir haben gekämpft und verloren. Aber der Bürger ist noch nicht mündig genug. Für diese unsere Mündel kämpfen wir weiter.“ Usf. Hat es sich gelohnt, fragen Sie, liebe Leser. Werden auch unsere Sorgenkinder gute Demokraten? Ich würde doch ein entschiedenes Ja zu Bedenken geben.

DoRoh