DEMOKRATIE - JETZT!

■ Unser philosophischer Reporter erlebt bei Familie Meisterstein in Magdeburg eine Aura des Erhabenen vor der liebevoll aus Milchpulverpackungen zusammengeleimten Wahlurne

„Sometimes reality becomes too complex, fiction gives it form.“ (VAGUE)

„Wann hat eine Mehrheit deutschen Volkes jemals politischen Instinkt, politische Kultur gezeigt?“ (Peter Pan)

Kopf tief in, auf braunen Kunstholztisch aufgestützte, Hände vergraben, sitzt der Chronist verzweifelt - & umringt von der wild gestikulierenden, in erhobenen Stimmen aufeinander einredenden Familie Meisterstein. Wieso?

Gut, also, die „ersten freien Wahlen in der DDR“, so fing es an. Dies war der Grund für den Anruf der „taz-Lokal -Kultur„-Redaktion; wir alle wären doch nun total fixiert darauf, ja, & das verständlicherweise - oder so -, denn, da „die Gartenlauben- & Datschen-Romantik verfällt; der östliche Lebensplan, von der Wiege bis zur Bahre verplant zu sein, nicht mehr gelte“ ('Spiegel'-Poesie I); die „Kinder der Demokratie“ ('Spiegel': Dresdens populärer Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, 47, & 25 Jahre lang Mitglied der Staatspartei SED) sich in einem „schmutzigen Wahlkampf zwischen Kap Arkona, der nördlichen Spitze von Rügen, & Schönberg im Süden der gerade noch real existierenden zweiten deutschen Republik“ ('Spiegel' -Poesie II) befinden & „ein Teil der Bürger, bewegt & aufgewühlt, (noch) mit einer freien Wahl nichts anzufangen weiß“ ('Spiegel'-Poesie III - „Woher auch sollen sie es wissen?„; 'Spiegel'-Poesie, Erster Preis), dada könne auch die einzige überregionale Gebetsmühle Berlins nicht zurückstehen, nein, vielmehr müsse sie diesen Tatbestand überprüfen & im Zweifelsfall konkrete Hilfe & Anleitungen gewähren. Ja. Genau. Leuchtet ein. Zwar könne sich die Redaktion nicht um alle 12,2 Millionen wahlberechtigte Bürger (huch!) kümmern, doch sei die Übereinkunft getroffen worden, ein quasi basisdemokratisches 20-Watt-Leuchtzeichen zu setzen & einer „repräsentativen Auswahl von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik“ Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren & mit ihnen eine „Vorwahl“ durchzuführen einerseits zur Einübung demokratischer Bürgersouveränität, andererseits, schnelleren Medien wie TV & Rundfunk ein Schnippchen schlagend, eine erste Hochrechnung zu liefern. Sozusagen also eine geschichtliche Aufgabe, ja, wie gesagt, die „ersten freien Wahlen in der DDR“ - & so.

Gut, tja, konnte der Chronist nicht „NEIN!“ sagen, gelle, Geschichte in real-time & hautnah zu erleben..., & so kam er, aufgrund des streng geheimen, den Gesetzen des Datenschutzes & der Wahrscheinlichkeit echt Genüge tuenden, „taz-Lokal-Kultur„-Schlüssels in Kontakt mit Familie Meisterstein, Magdeburg, die sich auf Anfrage bereit erklärt hatte, als potentielle Demokraten-Prototypen-Menge zur Verfügung zu stehen.

So kam's, ja. Später deshalb ein Klingeln an einer Wohungstür, wie es sie wohl tausendfach im Land unserer Brüder & Schwestern gibt. & da standen wir uns gegenüber: der völlig unbeteiligte (wg. journalistischer Prämisse, entgegen Schlußfolgerungen aus der Quantenphysik) taz -Beobachter & Familie Meisterstein: Werner & Hannelore, beschäftig im VEB Sergei Necheyev („Der Revolutionär betritt die Welt des Staates, der Klassen & der sogenannten Kultur, &: Er lebt nur deshalb in dieser Welt, weil er der festen Überzeugung ihrer schnellen & totalen Zerstörung ist.“ Der Katechismus des Revolutionärs), Tochter Beate, Sohn Karl sowie in Erwartung der langersehnten Einmaligkeit Warhol'scher 10-Minuten-Berühmtheit, Großpapa Wilhelm & Großmama Rosa (mütterlicherseits). Eine Aura des Erhabenen senkte sich herab, herab auf dies singuläre, historische Ereignis, & uns allen stockt für einen Moment der Atem; pietätvoll entsannen wir uns des Grundes unserer Begegnung: der Demokratie!

Ob der geschichtlichen Bedeutsamkeit zunächst etwas steif & förmlich, führten mich Werner & Hannelore in ihr durchaus nicht mondänes, aber behagliches Heim. Auf der Eckcouch Platz nehmend, boten sie zunächst einen, auf dem Westberliner Polenmarkt erstandenen Wodka, sowohl zur Entspannung, als auch zur Weihe dieses einzigartigen Abends... Ja, alles begann durchaus dem uns bevorstehenden Ereignis gemäß. Die Wahlurne wurde präsentiert, liebevoll aus Milchpulververpackungen zusammengeleimt. Großmama Rosa wies stolz auf die improvisierte Wahlkabine hin. Wir alle waren bereit fürs erste „6 aus 49“ der DDR.

Der Chronist verteilte die in der taz-Druckerei gefertigten Wahlzettel, erfragte der Form halber noch einmal den Aufnahmeeid ins demokratisch-selbstbestimmte Lager; jawohl, Familie Meisterstein anerkenne die Aussicht einer irreversiblen Ordnung, die nur Zeremonien kennt, die keinen Sinn haben; wisse um die Tatsache, daß die politische Klasse nicht mehr auf den Willen des Volkes zählen könne, sei sie doch dazu da, gleichzeitig diesen Willen zu repräsentieren & zu verbergen, & wisse, daß jene vielmehr nichts repräsentiere, da auch das Volk keinen Willen & Glauben mehr habe; einverstanden erklärten sie sich, den Einstieg in die vollendete Theatrokratie zu wagen, für die sofortige Kapitulation gegenüber den USA oder für die mittelfristige gegenüber der UdSSR, für die logische Fortschreibung der Dekadenz der Revolte in die Dekadenz der Theorie im Namen der Kämpfe von Sklaven, die, übereinander herfallend, alle „Freiheit“ schreien. Denn schließlich war Nürnberg - für die BRD, strukturell aber übertragbar auf die jetzige DDR - die Zerstörung des Staates & die Zerstörung des geschichtlichen Selbstverständnisses; so bedeutet die Entnazifizierung (& entsprechend: ...), unter dem Vorwand des Zur-Verantwortung -ziehens, die Abschaffung des sich verantwortlich fühlenden Ichs, das geldgierig, sanftmütig & schlau, von nun an mit seinem Interessenverband in der monotonen Steppe des sogenannten - Pluralismus heult, bezeugte Familie Meisterstein. Zwar sei man & frau ohnehin nicht dabei gewesen, bzw. immer dagegen & nicht dafür, wußte auch von nichts, d.h. hatte eh nichts zu sagen & konnte sich daher auch an nichts erinnern, doch bedeutete dies einen Verlust des Gefühls der Realität der Welt, was das Wahrnehmen alles Seienden als Artefakt & Simulacrum zur Folge habe. Hier gäbe also das Bewußtsein das Interesse für die Menschen & deren Lenkungsinstanz auf, & alle Verführungen von seiten des Objektes träfen nur noch auf Indifferenz, weil das Objekt definitiv zur Fiktion geworden sei; lediglich das „Schweigen„“ & die „Statistik“ würden noch Züge von Realität wahren.

Familie Meisterstein mühte sich sichtlich, den neuen Text in der Wiedergabe zu begreifen; daß es keinen Staat mehr gibt, sondern eine Wirtschaftsgesellschaft; keine Nation mehr (das war eine schwierige Hürde, lief doch das Wort durch aller Munde), sondern ein Komposit von pressure groups & daß es selbstverständlich in einer solchen Landschaft keine ich-starken Subjekte mehr gibt. Nur eben in der Wahlstatistik erscheint der demokratische Bürger noch nahezu real, während gleichzeitig der Politiker in einer Sphäre des Fiktiven weilt (Versteht man doch traditionell Politik als eine Spielart der Kunst).

Geschafft! Nun also wäre es möglich gewesen, zur Wahl zu schreiten - mit stolzgeschwellter Brust, des teleologischen Ernstes der Entscheidung zur wahlstatistischen Realität bewußt... Doch in eben diesem Moment geschah es, daß der Chronist den Kopf tief in, auf braunen Kunststofftisch aufgestützte, Hände vergrub. Denn ein wildes Gezänk hub an, ob der Wahlmodalitäten, fand seinen erschütternden Höhepunkt in Großpapa Meistersteins Formulierung: „Wer mir nicht glaubt, der kann ja rüber gehen!“ Tatsächlich also konnte ich erleben, daß sie/die DDR-Bürger nicht wissen, „daß eine Wahl den andern die Wahl zu lassen hat, zwischen Alternativen zu wählen; sie haben erfahren, daß der Satz von Rosa Luxemburg 'Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden‘ zwar bei einer Demo im Januar 1988 die DDR -Staatsgewalt auf den Plan rief, aber nicht gelernt, daß der Inhalt jenes Satzes zum Kodex einer Demokratie gehört“ (wie es ein Hamburger Nachrichtenmagazin so einleuchtend darlegt). Stattdessen also jener an Carl Schmitt erinnernde, fatale Dezisionismus „Souverän ist, wer über den Aussagesatz herrscht!“ von Großpapa Meisterstein.

Mühselig & anstrengend dazu - aber auch hoffnungsfroh stimmend - die Versuche, Rosas Vater zu demokratisieren. Hoffnungsfroh stimmend, weil schließlich von Erfolg gekrönt; Werner & Hannelore, Beate & Karl, Wilhelm & Rosa - sie alle wählten souverän die ihnen gemäße Entscheidungsfindung: Werner würfelte, Hannelore übertrug anhand komplizierter Berechnungen das „6-aus-49„-System, Beate entschied sich, das I-Ging zu werfen, Karl strich, blind bis 23 zählend, die Liste entlang, Großpapa Meisterstein - noch immer einem Pathos des Souveräns nachhängend - benutzte eine alte, aus der Zeit des antifaschistischen Widerstands stammende Pistole, & Großmama Rosa überlegte nicht lange und zeichnete ihren Wahlzettel ungültig. Ihre Wahlentscheidung konnte der taz-Chronist jedoch nicht anerkennen, da Rosa Meisterstein es versäumte, die Wahlkabine aufzusuchen.

Nach Aufzählung der übrigen abgegebenen Stimmen ergab sich folgende Aufschlüsselung: PDS 20%, Bündnis 90 20%, NDPD 20%, SPD 20% & für das Aktionsbündnis Vereinigte Linke ebenfalls 20%. Entgegen den pessimistischen Kollegen vom 'Spiegel' wagt der Autor unter Berücksichtigung dieser Generalproben die Prognose, daß der überwiegenden Mehrheit der DDR -Bevölkerung nicht nur - wenn auch mit Schwierigkeiten bewußtseinsmäßig fähig, sondern auch willens ist, Demokratie & Pluralismus zu wagen & sich durch den Gang zur Urne ins Reale einer Wahlstatistik einzuschreiben .

„Der Gang zur Urne...“, wie bewegt Octave Mirabeau ihn beschreibt: „Schafe rennen ins Schlachthaus, still, hoffnungslos! Aber Schafe wählen zumindest nicht den Schlachter, der sie tötet oder den Bourgeois, der sie ißt. Animalischer als jedes Tier, mehr ein Schaf als jedes Schaf, nennt der Wähler den eigenen Henker & für dieses „Recht“ machte er eine Revolution.“

R.Stoert

(undankbar zitierend: Hans-Dietrich Sander, Die Theatrokratie als höchstes Stadium des Weltbürgerkrieges; Günter Maschke, Die Verschwörung der Flakhelfer; Boris Groys, Politik als Kunst. Alle in: Jean Baudrillard, Die göttliche Linke, München 1986. Der Spiegel, vom 12.3.90; Octave Mirabeau, Voters Strike!; in: Black/Parfrey, Rants, New York, 1989)