NICHT BLÖDER ALS DIE BAYERN

■ Der lange Marsch zur Urne / „Wählen heißt: sich entscheiden“ / Zerknüllte Stimmzettel und handschriftliche Bedingungen

„Guten Tag, ich bin Ihr Wahltrainer“, so stellte ich mich in den letzten Wochen an den Wohnungstüren in Marzahn wohl tausendmal vor. „Ich möchte mit Ihnen gemeinsam das richtige demokratische Wahlverhalten erarbeiten“, erläuterte ich, und prompt öffneten sich die Wohnungstüren. Man bat mich im besten Sessel Platz zu nehmen, bot mir Kaffee und Othello -Kekse an und lauschte mit fiebriger Erwartung meinen Ausführungen. Ja, es war eine schöne Aufgabe, die Marzahner mit den Grundlagen freier und geheimer Wahlen bekanntzumachen.

Aber auch ein nervenaufreibender Job. Manches Mal glaubte ich an der Begriffsstutzigkeit des neuen Stimmviehs schier zu verzweifeln. „Was, ich soll geheim wählen? Ich hab doch nichts getan“, wurde oft beteuert. Andere wiederholten mit dem Gleichmut tibetischer Gebetsmühlen: „Hans-Dietrich Genscher, Hans-Dietrich Genscher“. Und einige gar brabbelten mit verblüffender, aber auch entnervender Gelehrigkeit daher: „NDR, KaDeWe, Unicef, Beate Uhse, KPdSU, ZDF, BDM, Schulli-Sixpack“. Doch war ich natürlich darauf vorbereitet, daß die neu erworbene Freiheit viele DDR-Gemüter zutiefst verwirrt hat. Wir begannen daher, den Wahlablauf Schritt für Schritt zu proben.

Das Training spielte sich meist wie folgt ab. Während die volljährigen Familienmitglieder draußen in der Küche warten mußten, richtete ich mit den Kindern im Wohnzimmer ein kleines Wahllokal her. Kontroll-Listen und Muster -Stimmzettel wurden ausgelegt, Wahlkabine und Wahlurne bereitgestellt. Dann wurde Mutti hereingerufen. Sie trat mit gezücktem Ausweis an den Protokolltisch, wo ihre Personalien überprüft wurden. Dann erhielt sie ihren Wahlzettel und warf ihn sofort in die Urne. „Falsch! Ganz falsch, Frau M.“, quakte ich entsetzt. „Sie müssen doch erst in die Kabine.“ Nach einer Viertelstunde drang ihr zaghafter Hilferuf hinter dem Vorhang hervor: „Kann ich jetzt wieder rauskommen?“ Den Stimmzettel hatte sie in der ungewohnten Streßsituation zu einem Bällchen geknüllt, den dazugehörigen Briefumschlag eingesteckt. Keinerlei Schuldbewußtsein war ihr anzumerken. Auch ihr Mann stellte sich nicht viel schlauer an. Zwar trat er gewichtig in die Wahlkabine, raschelte dort eine Zeitlang herum und kam schließlich stolzgeschwellt wieder heraus, doch ergab die sofortige Auszählung, daß er die vorgeschlagenen Parteien nicht angekreuzt, sondern hinten abgehakt hatte, und zwar alle. „Wählen heißt: sich entscheiden!“ dozierte ich wieder und wieder. Die Tochter machte dann ein schönes Kreuz bei PDS, aber fügte noch ausführliche handschriftliche Bedingungen an. Und der Sohn der Familie, der den Wahlvorgang an sich mit Bravour bewältigt hatte, kam fünf Minuten später zurück und erklärte, er habe sich geirrt und wolle seine Wahl korrigieren. Auf meinen ablehnenden Bescheid forderte er lautstark „die sofortige Hinzuziehung eines neutralen UNO -Wahlbeobachters“. Viele Marzahner Rentner hingegen wollten ihre bessere Hälfte in die Wahlkabine begleiten, um ihr bei der Stimmabgabe behilflich zu sein. „Sie hat doch keine Ahnung von Politik“, versicherten sie. Diese Szenen wiederholten sich mit bedrückender Regelmäßigkeit in den von mir betreuten Marzahner Haushalten.

Vielen Familien mußte ich daher auferlegen, den gesamten Wahlvorgang täglich nach dem Abendessen zu trainieren, vom Verhalten in der Kabine bis zum Jubel über die Hochrechnungen und die Politiker-Statements. Einige Schwierigkeiten gab es auch mit den Blockwarten, die wissen wollten, wo sie die Leute ihres Reviers, die den Gang zur Wahlurne verweigerten, anzeigen sollten. Insgesamt jedoch habe ich den Eindruck gewonnen, daß die Marzahn-Bewohner ihren ersten freien Wahlen gefaßt und mit banger Vorfreude entgegensehen. Angesichts der aufopferungsvollen Tätigkeit von uns vielen tausend Wahltrainern bin ich guten Mutes, daß sich die DDR-Bürger am Wahlsonntag nicht blöder anstellen werden als unsere bayerischen und schwäbischen MitbürgerInnen im Bundesgebiet.

Olga O'Groschen