Seh'n oder Nichtseh'n

■ „III nach neun“: Macken, Monstren, Muttertanten

„Ich heiße Ernst und segle gern. Im früheren Leben war ich Verfassungsrichter. Jetzt mach‘ ich schwierige Seglerknoten, und zwar ohne hinzusehen.“ - „Ich heiße Christoph und wüte gern. War längere Zeit im Knast. Bin bei der RAF gewesen.“ „Ich heiß‘ Prinz Edi und helfe gern. Mein Schloß in der DDR soll der Arbeitslosenfortbildung dienen.“ - „Ich bin der Bernd und kungle gern. Bin sehr enttäuscht, weil's für unsere CDU drüben doch nicht so recht am Schnürchen läuft.“

-„Ich heiß‘ Margarete und bewältige wahnsinnig gern. Die Arbeit an der Trauer tut nämlich sehr, sehr gut. Man wird dadurch aktiver und lebendiger.“ - „Huhu! Ich bin die Lotti und unterhalte gern. Was ist denn das für ein Haufen hier? Laßt mich mal Shakespeare zitieren: 'What are we? Miserable wurms...'“ - „Halt, Lotti, sei mal still. Ich heiße Juliane und moderiere gern. Der schönste Beruf der Welt: Du brauchst von nichts etwas zu wissen und darfst doch dauernd reden. Von Margarete will ich jetzt zum Beispiel hören: 'Wie könnte man machen, daß langsamer vergessen wird?‘ Und merkt ihr's? Sie sagt: 'Das ist eine sehr, sehr schwere Frage‘. Ja, ich kann schwer fragen!“

„Och Mööönsch, ich bin doch Randi und moderiere selber gern. Ich find‘ den Beruf auch irre gut. Man kommt mit interessanten Menschen zusammen und darf sie Löcher neben den Bauch fragen, zum Beispiel den Ernst, den Segler, den frag‘ ich jetzt: 'Würd‘ es Sie nicht noch mal so richtig jucken, an 'ner neuen Verfassung mitzuschreiben?'“ „So geeeeht das nichttt. Ich heiße Giovanni und näsle gern. Ich gebe mir so viel Mühe, meine Fraaagen geschmeidig aus meinen Hännnden herauszureiben, wie diese an Margarete: 'Wie geht Trauer eigentlich?‘ Damit habe ich sie elegant genötigt zuzugeben: 'Das ist wahnsinnig schwer für ein ganzes Volk.'“

Herr Ober, noch 'ne Lage. So jung kommen wir an unserem Selbsterfahrungsstammtisch nie wieder zusammen. Und wildes Durcheinanderkreischen macht das ganze doch erst so richtig schön - lebendig, wie Margarete sagt. Aber Lotti, du huberst hier etwas störend rum. Wenn sich erwachsene Deutsche die Metkübel über die Rübe schütten, wenn ihnen vor lauter Haß auf den Konsumrausch der Leute aus der DDR die Halsschlagader platzen will, wie bei dem Christoph, dann wollen wir uns nicht von einer selbstbewußten und frechen Alten den heiligen Ernst verderben lassen. Sei still jetzt, Lotti, laß auch mal andere reden. Was sagst du? Du bist frustriert? Juliane will aber „beim Trauerteil“ bleiben, und Margarete möchte noch mal was über die Leute aus der DDR erzählen: „Die sind dort viel lebendiger und natürlicher. Die haben viel mehr bewältigt.“ Also, Lotti, sei doch ruhig mit deinen „miserable wurms“.

Sybille Simon-Zülch