Grete Penkert, 72 Jahre alt, Jungwählerin

■ Erinnerungen und Irritationen löst die erste unabhängige Wahl nach vierzig Jahren vor allem bei den alten DDR-BürgerInnen aus

Lange ist es her, daß die Menschen aus Ost-Berlin frei wählen konnten. Den betagten Zeitzeugen der 1946er-Wahlen oder gar der letzten freien Reichstagswahlen Ende 1932 fällt es mittlerweile schon etwas schwer, sich an die damalige Zeit zu erinnern. Die 24 Parteien auf dem DDR-Stimmzettel machen ihnen die Entscheidung nicht gerade leichter.

„Es ist ein bißchen viel auf einmal, det is wat Neues“, beschreibt die 82jährige Wally Loof ihr Verhältnis zum Stimmzettel, den sie bereits als Muster aus Zeitungen kennt. „Viele Parteien kannte man ja gar nicht, ich habe mir aber rausgesucht, was ich eventuell wählen werde“, erklärt sie zwei Tage vor der Abstimmung.

Etwas leichter tun sich Grete und Josef Penkert. „Wir kommen zurecht, wir wählen DBD“, verkündet die rüstige 72jährige, deren Mann 1973 in Schenkenberg, Kreis Prenzlau, die Sektion der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands gegründet hatte. Vorgestern noch unentschieden, aber zur Wahl fest entschlossen war Emmi Barthel (86). „Ich habe im Spaß gesagt, ich wähle die Biertrinker-Union. So etwas war noch nicht da, solange ich lebe“, sagt sie schelmisch.

„Bei Honecker hat man die ganzen Jahre den Stimmzettel einmal gefaltet, und das war's“, beschwert sich Wally Loof. Die Kabine hatte sie dabei nicht benutzt, „weil die Wahlhelfer nur mißtrauisch geworden wären. Irgendwie wollte man ja nicht auffallen“. Jetzt muß und will sie die Kabine benutzen. Die Urberlinerin Emmi Loof erinnert sich noch lebhaft an die Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung im Jahr 1946: „Das war freier, nicht so wie in den letzten Jahren. Es war eine wirre Zeit. Alle Parteien drückten einem auf der Straße Flugblätter in die Hand. Ich weiß noch, daß die SPD viel Werbung gemacht hat, die sind mit Lastwagen und Lautsprechern durch die Straßen gefahren.“ Auseinandersetzungen habe es nicht gegeben. Die damalige Wahlhelferin in einem unzerstörten Haus an der Brunnenstraße entsinnt sich auch an Nachkriegshoffnungen: „Viele junge Leute sagten, jetzt kommen die Kommunisten und dann geht's uns besser.“

Josef Penkert (70) wählte 1946 im Land Sachsen-Anhalt. Auch er berichtet: „Es gab keinen politischen Druck. Jeder hat in einer Kabine gewählt.“ Zwar habe in dem mit Flüchtlingen überfüllten Dorf Klöden/Elbe eine gedrückte Stimmung geherrscht, doch die Eigenwerbung der Parteien sei davon nicht beeinträchtigt worden.

Ganz anders war die Lage nach Erinnerung der damals 14jährigen Grete Penkert bei den letzten freien Reichstagswahlen 1932 in Eydtkuhnen/Ostpreußen: „Vor jedem Wahllokal standen SA-Leute, an den Häusern hingen viele Nazifahnen. Die jungen Erstwähler bekamen von den SA-Leuten Blumen geschenkt. Die SA hat alte Leute von zu Hause abgeholt und bis zur Wahlkabine begleitet.“ Deutlich erinnert sie sich an den Wahlkampf jener Tage. „Überall hielten Nazis in proppevollen Sälen Vorträge, es vergingen keine zwei oder drei Tage, bis die zum nächsten Vortrag wieder da waren.“

Zwar sei die SPD auch stark gewesen, im Gegensatz zur KPD, doch habe die SA „nachher das Straßenbild beherrscht. Die hatten scheinbar auch mehr Geld. Die NSDAP hatte auch viel mehr Plakate angeklebt als die SPD.“ Turbulent sei es auch im als ruhige Provinz betrachteten Ostpreußen zugegangen. „Auch die KPD und die anderen Parteien hatten Versammlungen. Nach dem Ende der Versammlungen gab es Streit und Schlägereien, wie im Film.“, erzählt sie Jahrzehnte später mit angewiderter Miene.

Im Vergleich dazu beurteilt die Rentnerin den DDR-Wahlkampf geradezu rosig: „Er hat mir gefallen, er war eigentlich nicht ruppig, früher bei Hitler war das ganz anders brutal!“ Ihr Ehemann ergänzt Kritisches an westdeutsche Adressen: „Ich bezeichne das als Wahlrummel. Es war ja ein bißchen doll, zum Beispiel, daß westdeutsche Politiker hier so viel Politik gemacht haben. Das war mir schon etwas über, die haben sich hier gegenseitig beharkt, als ob sie hier für sich nach Wählerstimmen gejagt haben.“

Ihren Wunsch für die DDR formuliert Emmi Barthel so: „Ick wünsch ihr allet Jute. Daß es zur Vereinigung kommt, die jungen Leute ihre Arbeit behalten und daß es für sie besser wird.“ Wally Loof hofft, „daß es hier ruhig bleibt, es keine Krawalle geben wird und die richtigen Leute rankommen“.

Die lebenserfahrenen Senioren wollen den Parteien auch nach der Wahl auf die Finger schauen. Als wichtige Tugenden verlangen sie von ihnen, daß sie gerecht, ehrlich, sozial eingestellt und glaubwürdig sind. Josef Penkert meint kurz und bündig: „Nicht erst Versprechungen machen und nachher nicht einhalten!“

Karsten Peters