„Jetzt haben wir uns verschenkt“

■ Die Ostberliner Bevölkerung ist über das Wahlergebnis überrascht / Der kleine Mann auf der Straße bleibt trotz großer Wahlversprechungen skeptisch / „Wir sind voll abgeschnurt“ / „Kohl muß jetzt zeigen, was er kann“

Am Tresen der kleinen Eckkneipe im Ostberliner Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg herrschte zunächst gespanntes Schweigen, dann eine Schrecksekunde und völlige Überraschung: Das DDR-Fernsehen hatte gerade weitere Hochrechnungen des Ergebnisses der Volkskammerwahl gesendet

-die CDU weit an der Spitze. „Ab morgen gelten bei uns neue Spielregeln. Jetzt haben wir uns nicht verkauft, sondern verschenkt.“ Der Monteur spülte seinen Ärger mit einem Bier runter.

Gegenüber, im Restaurant „Zur Mühle“, wurden die vor der Eingangstür liegenden Mühlsteine zum Symbol. Dort hatte der Demokratische Aufbruch, eine der prominenten Gruppen der Stunde Null in der DDR unter ihrem Vorsitzenden Rainer Eppelmann, zur Wahlparty geladen. Unter Faschingsluftschlangen und Ballons kam angesichts des Hochrechnungsergebnisses von etwa einem Prozent keine Hochstimmung auf. „Wir sind voll abgeschnurt“, meinte einer der Besucher unter Anspielung auf den erst wenige Tage vor der Wahl zurückgetretenen Parteichef Wolfgang Schnur, dem Kontakte zum Staatsicherheitsdienst zum Verhängnis wurden.

Trotzdem herrschte jedoch relativ fröhliche Stimmung. Der Demokratische Aufbruch gehört mit der CDU und der „Deutschen Sozialen Union“ der siegreichen „Allianz“ an. Eppelmann selbst sah man seine Enttäuschung an. Er wertete denn Tag jedoch trotzdem als „Freudentag“, da das Volk an seinem ersten Wahltag einfach was zu feiern habe.

Unter den Gästen auch viele westliche Wahlhelfer - in Seidenjacken, mit rheinischen Sprüchen, aus dem bürgerlichen Lager - zeigten offene Zufriedenheit: „Kohl hat eine Wahl völlig allein gewonnen“, meinten sie. Ein DDR-Besucher der Party war weniger freudig: „Ab morgen heißt es: Heim ins Reich“, formulierte er seine Enttäuschung. Die kleinen Parteien innerhalb der Allianz seien in der Umklammerung durch die allmächtige Bonner CDU untergegangen, analysierte er das Ergebnis.

Die ersten Reaktionen in der Berliner Bevölkerung waren von purer Überraschung gekennzeichnet. „Nix Kopf-an-Kopf-Rennen, glatter Sieg für Kohl. Wer hätte so was erwartet?“ Der jungen Fließbandarbeiterin bleibt fast ein Stück ihrer Bulette im Hals stecken. „Selbst Willy (Brandt) hat die SPD nicht retten können, det haut mir um“, schüttelt der gemütliche Wirt seinen Kopf.

In die Überraschung mischt sich jedoch auch vorsichtige Hoffnung. „Jetzt muß Kohl zeigen, was er kann. Mit Versprechungen geht hier gar nix mehr. Einigkeit, aber schnell, heißt jetzt das Motto“, sagt sein etwas angeheitertes Gegenüber an der Theke hoffnungsvoll. Einig waren sich die Ostberliner an diesem Abend nur in einem Punkt: „Es wurden nur Westparteien gewählt.“ Einzige Ausnahme war die PDS, deren Hochrechnungen am Bildschirm von den Kneipenbesuchern immer wieder mit Pfiffen quittiert wurde. Zufrieden unterdessen die westlichen Wahlkämpfer auf der Wahlkampfparty: „Die Schlacht hat sich gelohnt.“

„Den kleinen Mann interessiert doch nur, daß die PDS ihre Macht verloren hat, der Rest ist doch egal“, formuliert der gemütliche Taxifahrer auf der Fahrt ins Pressezentrum seine Einstellung und fügt hinzu: „Wir sind schon immer beschissen worden, vielleicht wird's jetzt ein bißchen weniger.“

ap