: Wo der Wildbach rauscht...
Bundesdeutsche Kanuten im DDR-Leistungszentrum Potsdam zwischen Unbehagen und Begeisterung: Leistungsdiagnostik im bislang geheimen und wohl einzigartigen Strömungskanal ■ Aus Potsdam Michaela Schießl
Kanupaddeln, Kajaktouren, Wildwasserfahrten - damit verbindet jeder stille Bäche in unberührter Natur, idyllische Seenplatten oder verwegene Survivalthrophies fernab der Zivilisation. Echten Leistungskanuten entlocken solche Vorstellungen bestenfalls ein müdes Lächeln: Sie müssen ihr Trainingspensum auch in weniger verträumter Umgebung wie Dreckvater Rhein abreißen oder auch mal zum Techniktraining ins örtliche Schwimmbad. Was jedoch die zehn Kanuten des Deutschen Kanu-Verbandes (DKV) in Potsdam zu sehen bekamen, hatte auch bei nüchterner Betrachtung nicht mehr viel mit deren gewohnten Paddelweltbild gemein. Dort nämlich, auf dem Trainingsgelände des ASK Potsdam, rauscht der Wildbach in einem quadratisch, praktisch-häßlichen Bau aus den 50er Jahren.
Das unscheinbare Gebäude beherbergt eines der lange gehüteten Geheimnisse des DDR-Sports: ein Strömungskanalbecken zur Leistungsdiagnostik der Kanuten. Bewältigt man ein Labyrinth von engen, kahlen Gängen, vorbei an Hantelhallen und Umkleideräumen, erreicht man das in Europa Einmalige: ein zehn Meter kurzes, fünf Meter breites und zirka 1,30 Meter tiefes Wasser.
Geradezu harmlos wirkt es, eher wie ein kleiner Swimming -Pool, umgeben von vereinzelten Topfpflanzen als letzte Relikte der Natur. Doch wenn im Keller die Motoren angeschmissen werden, das Wasser mit über fünf Meter pro Sekunde von vorne angeschossen kommt, verwerfen auch Verwegene sofort jeden Gedanken ans Baden. „Da wird einem schon vom Hinschauen angst und bange. Und vor allem schwindlig“, gesteht Dirk Ulaszewski, der in Seoul im Einerkajak bis ins Halbfinale vorstieß, sein Unbehagen.
In der Badewanne
bin ich Kapitän
Inmitten der dahinsausenden Wassermassen liegt einsam ein Rennkajak, gehalten von einem Stahlarm, um nicht ans Beckenende mitgerissen zu werden. Nils Ellwanger, mutiger Olympiavierter im Zweierkajak, entert das Boot über eine rollbare Brücke, die über Becken und Boot gefahren wird. Kaum hat sich der tapfere Kanut in die Einstiegsluke gezwängt, wird sein wertvoller Körper an einem von der Decke hängenden Gurt gesichert, damit er im Kenterfall nicht von den Fluten weggetragen wird.
Noch hat er eine kurze Galgenfrist zum Warmpaddeln, dann wird es ernst: Ein elektronischer Pfiff ertönt, und wie ein Hamster im Laufrad paddelt Ellwanger mit aller Kraft gegen die stetig zunehmende Strömung an. Erreicht er den Punkt, an dem der das Kajak fixierende Hebel keine Haltefunktion mehr hat, die Abdrifft des Boots also alleine durch heftiges Paddeln ausgeglichen wird, wechselt die vorher rote Leuchanzeige zur Belohnung auf grün. Daneben gibt eine andere Meßzahl bereitwilliug Auskunft über die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers.
Ellwangers Bewegungsablauf wird per Videokamera von vorne und oben gefilmt, jede unökonomische Technikvariante gnadenlos aufgezeichnet. An den Paddelblättern angebrachte Elektroden messen den benötigten Kraftaufwand. Der in Kanutenaugenhöhe angebrachte Monitor zeigt dem Betrachter, falls dessen Blick von der Anstrengung nicht zu stark getrübt ist, noch während der Übung die Kraftkurven auf. Natürlich säuberlich nach rechtem und linken Arm getrennt.
Doch nicht nur der Paddler gibt alles: Auch im vor ihm liegenden Technikraum, dem High-Tec-Regieraum eines Fernsehstudios nicht unähnlich, laufen etliche Auswertungscomputer auf Hochtouren. Meterweise spucken sie mit Kurven und Zahlen übersätes Papier aus, zu dessen Interpretation es eines Biomechanikers, Sportmediziners und Meßtechnikers bedarf. Wie lange konnte sich der Prüfling gegen die Strömung behaupten, wieviel Kraft hat er verbraucht, wie hoch war die Schlagfrequenz, zieht er etwa mit dem rechten Arm stärker als mit links? Nichts bleibt dem Computer verborgen.
Das Gesamtkunstwerk, entstanden aus der peniblen Auswertung aller Einzelsteinchen, ergibt zusammen mit dem Ergebnis der auf Laktatwerte untersuchten Blutprobe, ein recht genaues Bild des Trainingszustandes.
Josef Capousek, Cheftrainer der bundesdeutschen Kanuten, strahlt ob der technischen Möglichkeiten. Dennoch wiegelt er ab: „Wir müssen daheim alle Ergebnisse noch mal genau analysieren, erst dann kann ich beurteilen, was das hier in Wirklichkeit bringt.“
Aber ob er nun beschwichtigt oder nicht: Fakt ist, daß er und sein Verband als einer der ersten in die DDR eilten, um von den sagenumwobenen Sportanlagen zu profitieren. Von der Existenz eines solchen Strömungskanals sickerte auf Wettkämpfen immer mal wieder was durch, berichtet der Coach. Genaues wußte man jedoch nicht.
Was kostet ein Sieger?
Auch der DKV hat vor Jahren mit einem eigenen Leistungsdiagnostikzentrum geliebäugelt. Sogar die zwei Millionen Mark, die es hätte kosten sollen, waren schon aufgetrieben. Gescheitert ist das Projekt schließlich an den Betriebskosten von 10.000 Mark monatlich. So viel Geld sind Kajaksieger dann doch niemanden wert. Im DDR-Sport war Geld bisher kein Thema. Allein rund ums Strömungsbecken sind sechs festangestellte Mitarbeiter beschäftigt: neben dem Leiter, Biomechaniker und Sportmethodiker Klaus Weber eine Sportärzin, ein Meßtechniker und ein Computerfachmann, Sportwissenschaftler sowie mehrere Handwerker. Resultat des technischen und personellen Aufwandes: Olympiamedaillen für die Kanuten in Seoul und jede Menge Ehre für die DDR. Den Preis für solche Erfolge zahlten meist die Unbekannten. Im zarten Kindsalter als geeignet für diese Sportart ausgemessen und fortan stufenweise gefördert, konnte eine Leistungsdiagnose das plötzliche sportliche Aus bedeuten. Denn anhand der Ergebnisse kann ein Trainer theoretisch hochrechnen, welchen Leistungsstandart sein Sportler bei maximalem Training bis zum Wettkampftag X noch erreichen kann.
Lag dieses Niveau unter dem für eine Medaille notwendigen, wurde nicht selten ein Talent von heute auf morgen abgeschrieben. Was in der Tat gleichbedeutend war mit einem Sportverbot: Denn außerhalb der größtenteils auf Leistung orientierten Betriebssportgruppen existieren in der DDR praktisch keine Breiten- und Freizeitsportstrukturen.
Doch auch den bundesdeutschen Kanuten ist die Anlage trotz aller Neugier nicht ganz geheuer. „Das Becken ist optimal zur Leistungsdiagnostik. Andererseits wird man nicht umbedingt motiviert, wenn man ständig schwarz auf weiß die eigenen Leistungen und die der anderen vor sich sieht. „Das kann auch mächtig entmutigen“, sagt Dirk Ulaszewski. Die Zukunftsvision, in einer großen Halle mit zehn nebeneinanderliegenden Strömungskanälen zu trainieren, quittiert er mit höhnischem Gelächter. „Das würde keiner von uns machen. Zum Ausdauertraining ist der Kanal nix, das machen wir weiterhin draußen.“
Spricht's, und läuft aus der Halle, hinunter zum idyllisch gelegenen See, wo seine Kumpels gerade die Boote aus dem Wasser heben.
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