DDR-Wahl in Bremer Turnhallen

■ „Die kriegen Wiedervereinigung und Wohlstrand jetzt geschenkt, und wir sind angeschissen“

18. März, Schicksalsstunde des Deutschen Volkes. In der Bremer Turnhalle Wilhelm-Leuschner-Straße fand das historische Ereignis entweder gar nicht oder wie in den meisten Bremer Haushalten statt: Mit Bier und Erdnußflips vorm Fernseher. Während ihre ehemaligen Nachbarn in Leipzig, Frankfurt/Oder und Rostock zum ersten Mal frei wählen durften, hatten DDR-Übersiedler in Bremen keine Wahl. Auf allen Kanälen die gleichen Bilder, die gleichen Töne: Kohls Kopf, „eine Stunde des Glücks“, Lafontaines Kopf, „leichtfertige Versprechnungen“, „das Ereignis an sich, unabhängig vom Ergebnis...“

Die Versammlung im zum Fernsehzimmer umgebauten Umkleideraum ist unwesentlich größer als an weniger historischen Tagen. Einige Mütter ge

hen nach den ersten Bildern. Die Kinder müssen ins Bett. Einige Männer mit Gelegenheitsjobs gehen („Das Ergebnis erfahre ich morgen noch früh genug“), die anderen „haben sich sowieso noch nie für Politik interessiert“.

Ein junges Paar geht lieber ins Kino als deutsche Geschichte zu erleben. Nein, auch den DDR-Wahlkampf hat sie nicht verfolgt. „Es gab hier Wichtigeres zu tun. Die Kinder, die Behördengänge...“ Ob sie heute wählen gegangen wäre, wenn...? Sie nicht. Er hätte „natürlich CDU“ gewählt, weil „nur noch die Wiedervereinigung dafür sorgen kann, daß es mit den Bankrott-Betrieben aufwärts geht.

Unter den Zurückbleibenden vor den Bildschirmen lösen die ersten stabilen Hochrechnungen eine ungläubige Verdutztheit aus:

Das Debakel für die SPD hat auch hier niemand auf der Rechnung. Ebensowenig den überwältigenden CDU-Erfolg. Selbst ein ehemaliges CDU-Mitglied ist verdattert: „Die CDU war bis zum 9. November ja keine Partei. Ich möcht mal sagen, das war eine Bande.“ Seine Erklärung für das Wahlergebnis: „Gewählt worden ist nicht die Ost-CDU, sondern die West-CDU. Helmut Kohl hat die Wahl gewonnen.“

Ein gelernter Maler aus Trebbin/Kreis Potsdam hätte auch „eher auf die SPD“ gesetzt. Jetzt ist er besonders enttäuscht, daß „die das Neue Forum so abgekanzelt haben. Schließlich haben die die Revolution gemacht und alles überhaupt angeschoben.“ Er selbst hat noch in der Nacht des 9. November die Koffer gepackt und ist in die Bundesrepublik gekom

men.

Als die Hochrechnungen sich nur noch hinter dem Komma ändern, ist die erste Verblüffung gewichen. An ihre Stelle treten gemischte Gefühle und Besinnung auf eigene Interessen. Eine erste Wahl-Bilanz derjenigen, die die Wiedervereinigung für sich privat schon organisiert haben. „Im Grunde sind wir beschissen worden.“ Einer redet Klartext: „Ich habe meine Wohnung, meine Freunde, meinen Job aufgegeben und sitze jetzt hier in einer Turnhalle. Die kriegen mit der Wiedervereinigung den Wohlstand jetzt geschenkt.“ Sein Plädoyer: „Die haben sich vierzig Jahre selbst in die Scheiße reingeritten. Jetzt sollen sie auch sehen, wie sie alleine wieder rauskommen.“ Um 11 Uhr fängt endlich der Krimi an.

Klaus Schloesser