: Die Reihen lichten sich
■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Jetzt wandern Leute aus, die früher nie daran gedacht hätten. Vielen ist der Weg völlig egal. Sie füllen die Fragebogen für die amerikanische Botschaft aus und bitten gleichzeitig um Einladungen aus Israel“, kommentiert einer von etwa hundert jüdischen Sowjetbürgern vor der amerikanischen Botschaft in Moskau die Schlange. Sie wissen, daß die Formalitäten bis zu fünf Jahren dauern können. Rund 40.000 sowjetische Juden kamen letztes Jahr in die USA, und für dieses Jahr rechnet man schon mit 70.000: die Mehrzahl sind Juden. Etwa 15.000 sowjetische Emigranten sitzen noch in Rom. Der Fluchtweg über Wien und Rom wurde Oktober 1989 gesperrt. Schon seit Mitte 1988 erhält nicht mehr jeder sowjetische Jude den Flüchtlingsstatus, der mit einer beträchtlichen sozialen Starthilfe verbunden ist. Das Tor in die USA wurde weiter aufgemacht, aber es scheint verengt, weil ein immer größerer Strom hineindrängt.
Vielen Juden ist Rußland unheimlich geworden. Anfang Februar brachten die Fernsehnachrichten ein kurzes Dementi von Gerüchten über bevorstehende Pogrome, das aber diese Gerüchte eher verstärkte. „Ein Anwachsen des antisemitischen Geredes und Geschreibes in der Gesellschaft, ohne daß bisher die handgreiflichen Gewalttaten gegen Juden nachweisbar zunehmen“, konstatiert ein konsularischer Mitarbeiter der Botschaft eines westlichen Landes, der dieses Thema speziell verfolgt. „Aber“, fügt er hinzu: „auch wenn jetzt mehr Rauch als Feuer da ist, so kann doch niemand mit Sicherheit beurteilen, ob die Erwartung von Pogromen für den 5. Mai real ist.“
In Moskaus einzigem jüdischen Theater, dem „Shalom“ in der Warschauer Chaussee waren noch bis vor zwei Monaten immer alle Vorstellungen ausverkauft. „Jetzt lichten sich die Reihen“, erzählt mir die Leiterin: „Tagsüber sind die Leute mit anderen Dingen beschäftigt, mit ihren Fragebogen und mit dem Verkauf ihrer Habe. Und abends haben viele einfach Angst, auf die Straße zu gehen. Unsere letzte Tournee wurde zum Alptraum. In großen Städten wie Odessa oder Kischinjov drangen alle Leute nach den Vorstellungen mit Ausreisewünschen auf uns ein.“
Anna F., Redakteurin einer jüdischen Zeitschrift, hat gerade den Flüchtlingsstatus erhalten. Sie spricht von der wirtschaftlichen Sackgasse, in der sich das Land nach dem Anfangsaufschwung der Perestroika befindet: „1985/86 hatten wir noch Hoffnungen, aber jetzt ist alles schlimmer geworden. Wir können über alles offen reden, aber bei den Gesprächen bleibt es dann.“ Ihr Mann betont: „Nicht an der Wurst fehlt es mir hier, sondern an der Perspektive.“ Weiß er denn nicht, daß es auch in der westlichen Welt Antisemitismus gibt? „Freunde erzählen, daß in New York die orthodoxen Chassidim mit steifen Hüten und Schmachtlocken herumlaufen, hier kämst Du so keine drei Meter weit.“
Am meisten irritiert viele Menschen, daß die russisch -chauvinistische Organisation Pamjat auf Plakaten und in ihren Reden bei Kundgebungen offen verfassungswidrige Losungen ausgibt, ohne daß die Ordnungshüter dagegen einschreiten: Da wird zum Beispiel das Wahlverbot für jüdische Sowjetbürger oder das Verbot „russisch-jüdischer Mischehen“ gefordert. Sie habe so getan, als wolle sie in die Pamjat eintreten, und man habe ihr gesagt, daß es eine Aufnahmebedingung sei, die Adressen von fünf jüdischen Familien zu liefern, erzählt eine Frau vor der amerikanischen Botschaft. Andere berichten, daß in den Vororten im Süden Moskaus in den Treppenhäusern Listen hängen, mit der Aufforderung, die Wohnungsnummern jüdischer Nachbarn einzutragen.
Der Vorsitzende der Moskauer jüdischen Gemeinde, Wladimir Simeonowitsch Federowski hat dafür keine Beweise. „Es gibt viele Gerüchte, die einen bestimmten Zweck verfolgen“, betont er. „Irgendjemand hat ein Interesse an dem all dem“, höre ich von vielen Bekannten. Nicht nur in bezug auf die Juden ist die Sowjetunion die größte Gerüchteküche der Welt: über jeden Nationalitätenkonflikt, über mögliche Bestechungsaffären, über jedes Unglück kursieren hier schwindelerregende Gerüchte. Allzu dicht ist noch der undurchsichtige Mantel des öffentlichen Schweigens, der viele keimende Probleme bedeckt. Dieselben konservativen Kreise im Parteiapparat, die bisher mit Erfolg die Pressefreiheit im Lande bekämpfen, haben offenbar auch Interesse an einer gewissen sozialen Instabilität, am Mißtrauen der Bürger untereinander, denn all dies nährt den Wunsch nach einer starken Hand.
Und wie steht es mit dem Interesse des Auslands? „Gerüchte über einen Kuhhandel zwischen den Vereinigten Staaten, Israel und der Sowjetunion im Mittleren Osten sind völlig ohne Grundlage“, meint der kompetente westliche Konsularbeamte und fügt dann zutiefst überzeugt hinzu: „Ich halte das alles für ein gänzlich spontanes Phänomen.“
„Früher hätte ich vielleicht bei einigen russischen Bekannten als 'Verräterin‘ gegolten, aber heute denkt keiner mehr so“, sagt mir die Redakteurin Anna F.: „Alle beglückwünschen und beneiden uns.“ Dennoch: Die Emigration ist nicht einfach: Vor allem vor künftiger Arbeitslosigkeit und vor der Sprachbarriere hat sie Angst: „Bisher konnte ich aus meiner Sprache privat und beruflich Sicherheit beziehen. Hier war ich an meiner Arbeitsstelle etwas Besonderes und brauchte mich nicht unterzuordnen. Damit ist es jetzt vorbei.“ Als Mitarbeiterin irgendeines Joint-ventures einmal nach Moskau zurückzukommen, davon träumt Anna F. schon jetzt.
Auch Wladimir Simeonowitsch Federowski denkt manchmal an Joint-ventures. Er möchte die Moskauer jüdische Gemeinde gerne wirtschaftlich auf eigene Füße stellen, die Wohltätigkeit und den kulturellen Sektor sichtbar ausdehnen. Er möchte Zeichen der Hoffnung setzen. Der Gemeinde und der Synagoge ist noch kein einziges Mal mit einem Anschlag gedroht worden. In bezug auf die Zukunft zeigt er vorsichtigen Optimismus: „Immer mehr junge Leute kommen zu uns. Noch vor wenigen Jahren war das jüdische kulturelle Leben auf Wohnungen und Heimlichkeiten beschränkt, um die Jahreswende haben wir die erste Assoziation aller jüdischen Gemeinden in der Sowjetgeschichte gegründet.“
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