Zwiespältige Eindrücke

Die CDU war die einzige klare Alternative zum alten Sozialismus  ■ G A S T K O M M E N T A R

Otto Schily hielt eine exotische Frucht vor die Fernsehkamera. Die Leute in der DDR hätten „Banane“ gewählt, meinte er kongenial mit Oskar Lafontaine, der für die Wahlniederlage seiner Partei die Lust der Dresdener und Leipziger auf „Kohl und Kohle“ verantwortlich machte.

Daß der Neusozialist Schily den Wunsch der Leute, bessere Lebensverhältnisse zu haben, nicht akzeptiert, kann man von einem verstehen, der bisher Betriebe von innen noch nicht gesehen und sich mehr in hochpolitisierten Randzirkeln der bundesdeutschen Gesellschaft bewegt hat. Daß der Kanzlerkandidat der SPD daherredet wie Graf Koks, ist die neudeutsche SPD-Variante des dialektischen Materialismus. Was dem Arbeiter im Saarland billig ist, muß dem Leipziger Malocher noch lange nicht recht sein: Manche, die den eigenen Swimmigpool im Garten haben, verzichten gerne auf den Neubau des öffentlichen Freibades. Das kann man sogar verstehen. Aber als Vertreter einer angeblichen Volkspartei scheinen sie weniger geeignet zu sein. Ich hatte das Wahlergebnis - ehrlich - vorausgesagt. Die CDU war die einzige klare Alternative zum alten Sozialismus, und sie vertrat die Ziele der November-Revolution des letzten Jahres, nämlich Freiheit, Demokratie, bessere Lebensverhältnisse und als deren Voraussetzung die deutsche Einheit am konsequentesten. Die SPD hinterließ bei den Wählerinnen und Wählern einen zwiespältigen Eindruck. Oskar Lafontaine stand mehr auf der deutsch-deutschen Bremse, während Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel den deutschnationalen Anschluß nicht verpassen wollten. Ein richtiges Durcheinander und Wischiwaschi, und Herr Böhme war der Kandidat zwischen Wischi und Waschi. Dabei hätten sich die Sozialdemokraten gar nicht so schwertun müssen. Die Deutschen wollten im September und wählten am letzten Sonntag nicht einen neuen deutschnationalen Staat, sondern, wie gesagt, Freiheit, Wohlstand und die Zugehörigkeit zu einem Europa, innerhalb dessen sie reisen können, wohin sie wollen, Freundschaften schließen, mit wem sie auch immer mögen, und den Studien- und Arbeitsplatz wählen können, den sie sich wünschen.

Der Wahlsonntag war ein historisches Datum. Aber genauso wichtig bleibt der 1. Januar 1993, an dem eine neue Politik in Europa beginnen soll. Der Sonntag hat im Grunde eine Vorentscheidung dafür gebracht, daß aus den bisherigen 320 Millionen Europäern innerhalb der EG 337 Millionen werden. Das ist auch gut so. Vierzig Jahre Arbeit für Europa dürfen nicht wegen einer kurzfristigen nationalen Euphorie umsonst sein. Deutschland ist ein Land der Mitte, und es darf sich nicht nationalstaatlich organisieren, ohne unsere Nachbarn miteinzubeziehen. Von den Deutschen hängt es ab, ob Europa wieder zerfällt oder ob Europa weiter ausgebaut werden kann. Entscheidend ist die Stabilisierung der Demokratie sowohl in der DDR als auch in den osteuropäischen Ländern. Als freiheitliche Demokratien werden auch die osteuropäischen Länder eines Tages Mitglied der EG werden. Aus den zwölf Sternen der Fahne der EG müssen 16, 17 Sterne werden. Die Volkskammerwahlen am letzten Sonntag haben dieses Ziel erreichbar gemacht.

Heiner Geißler