Bürgerbewegungen ohne Katerstimmung

Im Haus der Demokratie, dem Domizil verschiedener Bürgerbewegungen und Oppositionsparteien, herrschte trotz des Wahlschocks keine Katastrophenstimmung / Erleichterung darüber, daß man keine Regierungsverantwortung trägt / „Sieg der Demokratie“  ■  Aus Ost-Berlin Matthias Geis

Die Stimmung im Haus der Demokratie, dem Sitz der Bürgerbewegungen, scheint auch am Tag nach dem Wahldesaster gelassen-nachdenklich - keine Katastrophenstimmung. „Jetzt werden wir trotzig“ war die Parole, die schon unmittelbar nach den ersten Trendmeldungen am Wahlabend kursierte. Als Trotz-Symbol schmückten gestern zwei überdimensionale Nationalflaggen mit Hammer und Zirkel die Fassade des Hauses. Entsetzensreaktionen wie die von Bärbel Bohley, die am Sonntag den Durchmarsch der Konservativen nicht fassen konnte, blieben die Ausnahme. „Wir werden das rechte Ding schon fressen“, waren die ersten Worte von Stephan Bickhardt, Geschäftsführer bei Demokratie Jetzt“.

Die Atmosphäre ist so gelöst, daß es fast unheimlich wirkt. Das Bündnis hatte sich schon lange vorher auf die sichere Minderheitenposition eingestimmt. Das Selbstbewußtsein der AktivistInnen scheint zudem wenig abhängig vom Stimmergebnis: „Wir haben gelernt, in der Opposition zu arbeiten“, kommentiert Werner Fischer, der zuletzt für die Auflösung der Staatssicherheit zuständig war. „Das werden wir jetzt weiter tun, und wir werden es besser machen als die anderen.“

Jens Reich vom Neuen Forum plädiert dafür, über dem konservativen Sieg nicht das Erreichte zu vergessen: „Wir haben als kleine Gruppe angefangen; in gewisser Weise sind wir da jetzt wieder angelangt; aber in der Zeit dazwischen haben wir sehr viel erreicht: daß unsere Kinder frei reisen können, daß wir frei reden können.“

Ähnlich, wenn auch etwas überschwenglich, reagiert Ludwig Mehlhorn, Gründungsmitglied von Demokratie Jetzt: „Wir sind die Sieger dieser Wahl“, reklamiert er für das Bündnis. Ohne die Demokratiebewegung hätte es die Wahl nicht gegeben. „Der Wahltag ist das Ende der Diktatur.“ Das gelte unabhängig vom Wahlergebnis und dürfe jetzt, trotz der Enttäuschung, daß die Initiatoren der Wende in den Hintergrund treten, nicht vergessen werden.

Reinhard Schult, linker Flügelexponent im Neuen Forum, reagiert sarkastisch auf das Wählervotum: „Ich war schon immer gegen Wahlen“, meint er lachend und gewinnt in unnachahmlicher Fundamentalistenlogik dem schlechten Ergebnis von SPD und Bündnis auch gleich das Positive ab: „Ich finde es gut, daß wir jetzt nicht in den Zwang kommen, uns an der Regierung beteiligen zu müssen.“ Jetzt gelte es die außerparlamentarische Arbeit wieder zu stärken.

Wolfgang Ullmann, der trotz der Zitterpartie vom Vorabend jetzt doch ein Volkskammermandat erreicht hat, interpretiert das Wahlergebnis zumindest als vorläufige Absage an die Bürgerbewegungen: Die Wähler hätten am Ende diejenige Partei vorgezogen, die sich am besten als Partei präsentiert habe. Die SPD hingegen habe versucht, die WählerInnen davon zu überzeugen, sie sei fast so gut wie die CDU. Das habe eben nicht gereicht. Auch Jens Reich hält mit Kritik am Hauptverlierer SPD nicht hinter dem Berg: Ihre Entscheidung, erst das Bündnis zu verlassen und dann - aus Angst vor der Diffamierung als „vaterlandslose Gesellen“ - voll auf die nationale Karte zu setzen, diese Rechnung sei eben nicht aufgegangen.

Immer wieder mischt sich in die Gespräche über den Wahlausgang auch der Groll über das parteitaktische Verhalten der Sozialdemokraten, die mit dem vorgezogenen Wahltermin und der Aufkündigung des gemeinsamen Oppositionsbündnisses die Bürgerbewegungen unter massiven Druck gesetzt haben. Dennoch scheint die Spekulation eher abwegig, ein gemeinsames Vorgehen der Opposition hätte gegen den konservativen Trend bestehen können.

In einer ersten Lagebesprechung gestern morgen wurde bereits eine engere Zusammenarbeit der drei Bürgerbewegungen vereinbart. Auch eine Fusion scheint nicht mehr ausgeschlossen. Gleichzeitig strebt das Bündnis mit der Grünen Partei und den unabhängigen Frauen eine Zusammenarbeit in der Volkskammer an. Die Überlegungen gehen bis hin zu einer Koalition.

Noch-Minister Wolfgang Ullmann will auch nicht ausschließen, daß die Stimme des Bündnisses in der Volkskammer mehr Gewicht erhalten wird, als es der zahlenmäßigen Stärke der zukünftigen Fraktion entspricht. „Wir werden uns auf die am Runden Tisch erzielten Ergebnisse und Beschlüsse berufen.“ Die seien schließlich auch von den Parteien mitgetragen worden, die jetzt die Regierung stellen. Man werde nicht zulassen, daß die sich jetzt einfach davon absetzten. Das gelte besonders für den gemeinsam erarbeiteten Verfassungsentwurf. Während die Stimmung vieler Bündnisaktivisten nach wie vor von starken Aggressionen gegen die SED-Nachfolgerin PDS bestimmt ist, die ein überraschend gutes Ergebnis erzielen konnte, kann sich Ullmann in Sachfragen durchaus auch eine Zusammenarbeit vorstellen.