„Fragt die Füße!“

■ Hugo Kükelhaus: Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne / Erlebnis-Ausstellung in Lilienthal

Mal ein Geräusch wirklich bis zu Ende hören. Mal mit geschlossenen Augen barfuß gehen. Mal seinen Kopf in eine Höhle stecken und brummen, was zu brummen ist. Mal schaukeln, ohne daß man was dazu tun muß und ohne daß einen jemand in die Nieren stößt. Zwanzig Gerüche riechen. All das sind bestenfalls Träume, üblicherweise aber vergessene und verdrängte Körpererfahrungen, die in unserer Welt weder Platz noch Rang haben. Eine Ahnung davon, wie wir mit unseren Sinnen Schindluder treiben, befällt uns vielleicht in diesen ersten Frühlingstagen.

Einer, der sich lange mit solchen Defiziten und Mitteln zu deren Behebung befaßt hat, war Hugo Kükelhaus (1900 bis 1984), ein komischer Heiliger, grandioser Dilettant, einer der letzten Generalisten, Tischler, Architekt, Physiologe, Bildhauer, Maler. „Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne“ heißt eine von ihm Mitte der Sechziger konzipierte Wanderausstellung, in die Kükelhaus all sein handwerkliches Können, sein Wissen um physio hier den Körper, de

seinen Kopf in de

Trog steck

Das Summloch

logische Zusammenhänge und allerlei Zusammengeklaubtes von Plato, Kant und Goethe hineinpackte. Diese Ausstellung zieht als eine Art Vermächtnis noch heute durch die Lande und hat in Lilienthal haltgemacht, in der Jan Reiners Schule für Behinderte.

Zunächst bringt der Ort der Ausstellung oder besser des „Erfahrungsparcours“ ganz spezifische Sinneseindrücke mit sich: Lange habe ich nicht mehr so viele Hände geschüttelt, bin so oft umarmt worden wie dort, die Be Foto: Jörg Oberheide

hinderten haben in mancher Hinsicht weniger Probleme mit den Sinnen als ich.

Was einmal ihre Schule war, ist nicht mehr zu erkennen: Innen und außen alles voll mit Erfahrungsinstallationen. Riechbaum: In etlichen Flaschen ist Geruch aufbewahrt, zur gefälligen Identifizierung und Nasenerweckung. Summstein: Je tiefer du hineinsummst, desto heftiger schwingst du mit. Wippen, Schaukeln, schiefe Ebenen, Pendel, Klanghölzer und Klangsteine, Strö

mungsvisualisierung oder eine gegenläufig rotierende Doppelhelix: sinnlich erlebbare Physik oder von Naturgesetzen ausgehende Sinneserfahrung.

Die SchülerInnen des Schulzentrums um die Ecke kommen nicht hierher zu den „Bekloppten“. Die Abwehr ist groß. Doch in diesen Tagen ist die Jan Reiners Schule überhaupt kein Ghetto: Kleine Kinder kommen in Klassenstärke; angehende Kindergärtnerinnen sind auf der Suche nach Anregungen; Alte, Familien, Jugendliche im Berufsvorbereitungsjahr, alle fassen mal in die Töpfe und stolpern barfuß über Kies oder Torf. Wobei die Schwerstbehinderten die Erfahrungen am gründlichsten machen, so, wenn sie sich durch den Barfußpfad rollen.

Zwischendurch ertönt die trainierte Stimme des Ausstellungsbetreuers Matthias Schenk, wenn er mit Emphase der Sprache an die Wurzel geht: „Erziehung! - Würde der Bauer an seinen Pflänzchen ziehen?“ „Standpunkt„; „Handeln„; steht nicht hinter jedem Wort eine Gebärde?

„Wer entscheidet über den Fußboden in der Schule? - Fragt die Füße!“ Seine „Erfahrungsfeld GmbH“ finanziert sich über den Eintritt. Von drei bis hundertdrei seien seine BesucherInnen, sagt Schenk. Über 3.000 waren es schon in Lilienthal. Er hat Kükelhaus kennengelernt, als dieser 81 Jahre alt war und mit Vorliebe LehrerInnen vor den Kopf stieß („Sie haben nichts kapiert!“) und schwarzfuhr. „Kükelhaus war einer, der es ernst meinte“. In der Schweiz, in Luzern, gebe es ein Haus ganz nach den Vorstellungen des Alten. Eine Behindertenschule, mit integrierten Schikanen für die Rollstuhlfahrer, einem Bach durchs Haus und einem zentralen Lagerfeuer.

Wenn man sich Zeit nimmt, sich von Erfahrungshunger treiben läßt und die Schuhe auszieht, wird man die Ausstellung gut durchblutet und beschwingt verlassen. Und man hat erheblich mehr vom Frühling. Bu

J.R.Schule: Zum Schoofmoor 9 hinter dem Hallenbad Lilienthal; tgl. von 10-18 Uhr, Wochenende 9-20 Uhr, Do. bis 22 Uhr; 8.-/5.-/18.-(Familien)