DDR-Wahl in Rostock: Was man wußte, trog

■ Auch in Rostock CDU-Mehrheit / PDS liegt weit über Landes-Durchschnitt / Verwirrung einer entstehenden Öffentlichkeit

Niemand wußte, was rauskommen würde, aber sie wählten wie um ihr Leben. Von 770 Wahlberechtigten im Wahllokal 304 im Rostocker Hauptpostamt hatten morgens um 9 Uhr schon 120 ihren Stimmzettel in die Urne gesteckt. Die kam, wie in den 190

anderen Rostocker Wahllokalen auch, aus Bremen. Nur wenn eine im Krankenhaus wählen wollte, fuhr mal einer mit der alten Pappurne los, von der das DDR-Emblem noch nicht ganz abgerissen war, der mit dem kleinen Schlitz, der für die nur zu faltenden Zettel

groß genug gewesen war, mit denen man ohne Ankreuzen die Nationale Front gewählt hatte, aber nicht für den großen Stimmzettel, bei dem man unter 21 Alternativen eine ankreuzen mußte. Zu dieser ersten Wahl, zu der sie nicht per Anruf oder Funktionär aus ihren Häusern geholt wurden, erschienen sie fast vollzählig, auch die 180.000 WählerInnen in der Hansestadt Rostock und die 674.000 im Bezirk.

In dem Land, in dem bis vor kurzem die ausweglose Akklamation der SED und ihrer „Blockflöten“ Wahl hieß, gibt es noch keine wirkliche Öffentlichkeit. Die erste freie und geheime Wahl seit 1932 konnte deshalb keine spiegeln, sie war Teil ihrer Entstehung. Wer wie wählen würde, war den Wählenden Qual und Rätsel, noch mehr als den Umfra

geforschern. In Rostock war der Wahlausgang eine Gleichung mit einer gegebenen Größe, zwei großen und einer kleinen Unbekannten. Die gegebene Größe: Alle wußten, die SPD gewinnt im Norden die Mehrheit, vielleicht auch in der ganzen DDR. Die großen Unbekannten: die Anteile von „Allianz“ und PDS, zu deren letzten Wahlkampfveranstaltungen viele junge Leute, Schüler, Studenten gekommen waren. Die, die ich noch am Sonntag fragte, schätzen sie auf 5, oder auf 30 Prozent. Die kleine Unbekannte: das Bündnis 90 der WortführerInnen der Herbstrevolution, von dem man wußte, daß es nur für wenige Prozente gut war. Sein Spitzenkandidat Jochen Gauck hatte aber den aufrechten Gang bis hin zur Rostocker Stasi-Entmachtung wirksam herbeigepre

digt und war der einzige bekannte Spitzenkandidat.

18.30 Uhr im Hotel Warnow, wo das DDR-Fernsehen die Spitzenkandidaten des Wahlbezirks neben allerlei Monitoren mit West- und Ostfernsehen versammelt hat: Zum ersten Mal verkündet der„Trend“ den ungeheuerlichen CDU-Wahlsieg. 18.55 Uhr wird er per Hochrechung zur Gewißheit. Die Gewißheit von vorher hatte getrogen. Die Bombe platzte in aller Stille. Keinen sah ich die Augen reiben, ein paar von draußen Reinkommende fanden die CDU-Mehrheit noch nicht groß genug, ein paar Zartbesaitete schlichen sich nach draußen, weil sie sich übel fühlten, die waren aus West-Berlin. Sonst TV as usual. Der SPD-Spitzenkandidat, Harald Ringstorff ringt um Fassung, hofft, daß viele, die jetzt

CDU gewählt haben, bei der Landtagswahl im Sommer SPD wählen werden. Jochen Gauck hat die Depression längst hinter sich, hatte sich mit dem Verzicht, für die SPD zu kandidieren, längst gegen den schnellen Erfolg entschieden. Ihn ärgert nur der hohe PDS-Erfolg.

Um halb neun erste Hochrechnung für Mecklenburg: Auch der Norden geht an die CDU (34 Prozent). Die SPD liegt mit knapp 25 nur 3 Prozent über dem Durchschnitt. Hauptgewinner gegenüber der CDU ist die PDS mit 23 Prozent, das sind 8 Prozent über dem Durchschnitt. Bündnis 90 hat 3 Prozent wie überall. In einzelnen Orten wie Neuruppentin und südliche Gartenstadt liegt das Bündnis aber bei 10 Prozent, das berichten später seine Wahlhelfer im „Haus der Demokratie“. Oft gibt es, wie in Lütten Klein, dort viel Stimmen fürs Bündnis 90, wo zugleich die PDS stark ist. Man wirbt mancherorts ums gleiche Klientel, „die Intelligenz“.

Das Rätsel ist gelöst. Am nächsten Morgen sind alle geschafft von der Öffentlichkeit, die sie sind. „Irgendwie schäme ich mich für mein Land“, sagt die Katechetin in einer großen kirchlichen Institution, die Bündnis 90 gewählt hat. Ihr Vorgesetzter, der das auch hat, sagt, man könne auch nicht erwarten, daß die Bevölkerung schon so weit ist, politisch zu entscheiden. Die Bevölkerung sitzt in Gestalt der Frau, die im Hause putzt, still dabei. Sie hat CDU gewählt. Das hat sie sofort gewußt, als man das konnte. „Und hier unseren dicken Kanzler, gefällt der ihnen?“ frage ich und tippe auf das Foto in der Bild-Zeitung. „Ja“, hat sie gesagt. Mir gefällt nur die Putzfrau.

Uta Stolle