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„Man hat zwangsläufig begonnen, sie ernst zu nehmen“

■ Während die Debatte um das kommunale AusländerInnenwahlrecht hier weiterhin ideologische Kontroversen auslöst, gehen die AusländerInnen in Amsterdam heute anläßlich der Gemeinde- und Bezirksratswahlen zu den Urnen / In einer großangelegten Kampagne wurde für ausländische KandidatInnen geworben

Während man allseits noch im deutsch-deutschen Taumel über die ersten frei manipulierten Wahlen in der DDR steckt, ist von einer Diskussion oder gar Kampagne für das kommunale AusländerInnenwahlrecht in West-Berlin nichts mehr zu hören. Die neue nationale Welle hat immerhin auch die konzertierte Aktion von „Republikanern“ und CDU gegen das Wahlrecht für ImmigrantInnen vorerst zum Halten gebracht - es gibt in diesen Kreisen zur Zeit bekanntermaßen Wichtigeres zu tun.

Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, wurde auf der letzten Sitzung des Ausländerausschusses ein entsprechender Gesetzentwurf mit den Stimmen von SPD und Alternativer Liste verabschiedet. Der Entwurf geht nun in den Rechts- und Innenausschuß, bevor er dem Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vorgelegt wird. Was in der Bundesrepublik und in West-Berlin weiterhin heftigste ideologische Kontroversen auslöst, ist in den Niederlanden seit Jahren selbstverständlich und wird in diesen Tagen wieder einmal praktiziert: Zu den Gemeinderats- und Bezirksratswahlen, die heute stattfinden, sind auch rund 300.000 AusländerInnen aufgerufen. Vom multikulturellen Wahlkampf in Amsterdam und vom Umgang mit dem AusländerInnenwahlrecht handelt der folgende Bericht.

An der Wand sind über die provisorische Isolierung aus Teppichfliesen Kinoposter und die Konterfeis holländischer Fußballprofis gepint. Der Tontechniker, ebenso autodidaktisch geschult wie der Moderator, hat sich hinter ein selbstgezimmertes Mischpult aus Resopalbrettern gezwängt. Daß schon mal das Telefon klingelt, wenn er auf Sendung geht, oder die gut vernehmbare Unterhaltung aus der benachbarten Wohnung mit über den Äther geht, stört ihn nicht - und es ändert nichts an der Popularität von 'Radio Fantasia‘. Man teilt sich die Frequenz mit 'Radio Rhadikan‘ (Hindus), dem karibischen Programm 'Radio Carina‘ und 'Radio Bangsa Jawa‘. An der Qualität der Sendungen haben Oussama Cherribi und Mom Errami vom „Amsterdams Centrum Buitenlanders“ (ACB), dem Amsterdamer Zentrum für Ausländer, einiges auszusetzen. Doch wenn 'Radio Fantasia‘ abends um 22 Uhr auf Sendung geht, schaltet die Mehrheit der rund 30.000 MarokkanerInnen in Amsterdam ein - eine gute Gelegenheit für den ACB, die ZuhörerInnen auf ihr Wahlrecht bei den Gemeinde - und Bezirksratswahlen hinzuweisen. Die Stadt Amsterdam hat sich die Informationskampagne zu den Kommunalwahlen einiges kosten lassen. 1.800 Gulden erhält zum Beispiel 'Radio Fantasia‘ allein dafür, daß sie dem ACB Sendezeit einräumt.

Wenn die Amsterdamer heute ihre Stimmen für die Wahl der 45 Gemeinderäte und der über 300 (?) Bezirksräte abgeben, dann sind auch MarokkanerInnen, TürkInnen, EngländerInnen und Bundesdeutsche zum Urnengang aufgerufen. Mit über 90.000 Menschen stellen die ImmigrantInnen 14 Prozent der Bevölkerung in Amsterdam. Wählen darf jede/r, der/die mindestens fünf Jahre legal in den Niederlanden gelebt hat, für die Wahlen zu den Bezirksräten genügt es sogar, in Amsterdam gemeldet zu sein. Diese Regelung entstand mehr aus Versehen beim Verfassen der entsprechenden Wahlvorschriften. Korrigiert hat sie allerdings niemand mehr. „Die Holländer stehen eben zu ihren Fehlern“, sagt Gjis von der Fuhr, Pressesprecher des ACB.

Der ACB ist eine Art Dienstleistungsbetrieb für Projekte und Organisationen von ImmigrantInnen, berät sie in der Öffentlichkeitsarbeit oder bei Neugründungen. Man produziert monatlich ein Fernsehprogramm für ImmigrantInnen und hat ein Produktionsstudio für eigene Videos aufgebaut. Seit November 1989 ist der ACB mit Wahlkampf beschäftigt - nicht für irgendeine Partei, sondern für türkische und marokkanische ImmigrantInnen. Eine entsprechende Anfrage kam von der Stadt Amsterdam - man wollte eine größere Wahlbeteiligung als bei den letzten Gemeinderatswahlen 1986 sicherstellen. 52 Prozent der wahlberechtigten ImmigrantInnen ging damals zu den Urnen, bei den MarokkanerInnen gar nur 17 Prozent. Deren Staatsoberhaupt, König Hassan, hatte damals aufgerufen, nicht an den Wahlen teilzunehmen.

Die marokkanischen, türkischen und holländischen Mitarbeiter des ACB haben sich allerdings nicht auf Kampagnen für das aktive Wahlrecht beschränkt, sondern unter den ethnischen Minderheiten intensiv nach Kandidaten für die 45 Sitze im Gemeinderat und über 300 Sitze in den Bezirksräten gesucht - mit Erfolg: 24 türkische und 12 marokkanische Kandidaten, fast ausschließlich Männer, stehen auf den Wahllisten, die meisten präsentiert die sozialdemokratische PvdA, den aussichtsreichsten Platz nimmt eine Frau ein. Maviye Karaman kandidiert auf Platz Drei des „Grün-Links-Bündnisses“ für den Amsterdamer Gemeinderat.

Über die politischen Auswirkungen des kommunalen AusländerInnenwahlrechts macht sich Gijs von der Fuhr vom ACB keine Illusionen. Weder die hohe Arbeitslosenquote unter den Immigrantengruppen noch die Diskriminierung im Bildungswesen (70 Prozent der türkischen und marokkanischen Jugendlichen schließen ihre Schullaufbahn mit dem qualitativ schlechtesten Abschluß des holländischen Schulsystems ab). „Aber die politischen Parteien haben zwangsläufig begonnen, die ImmigrantInnen ernst zu nehmen. Man sieht sie nicht mehr als Menschen an, die betreut werden müssen.“ Außerdem, findet er, „ist der Wahlkampf längst nicht mehr so langweilig wie früher“.

anb

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